„Großbritannien schließt die Tür für unbegleitete Flüchtlingskinder“, titelte die Zeitung The Independent am 26. Januar 2021. Hintergrund war eine Erklärung des britischen immigration minister (vergleichbar einem deutschen Staatssekretär) Chris Philp vier Tage zuvor. Der konservative Politiker hatte dargelegt, dass die britische Regierung nur noch in sehr begrenzten Fällen unbegleitete minderjährige Geflüchtete aufnehmen werde. Ohne es direkt auszusprechen, erklärte Philp damit ein humanitäres Aufnahmeprogramm für beendet, das der Labour-Politiker Lord Alfred Dubs im Mai 2016 nach dem Vorbild der historischen „Kindertransporte“ der Jahre 1938/39 im britischen Einwanderungsrecht verankert hatte.
Autor: tm
Massive Räumung im Zentrum von Calais
In der Calaiser Innenstadt hat am gestrigen 19. Januar 2021 eine der größten Räumungsoperationen der letzten Moante stattgefunden. Sie richtete sich gegen Migrant_innen, die ihre Zelte unter Brücken an den Quais in der Nähe des Rathauses aufgestellt hatten. Die Räumung war erwartet worden, nachdem am 16. Dezember 2020 eine entsprechende Verfügung das Stadt Calais ausgehängt worden war und das Verwaltungsgericht in Lille die Räumung am 24. Dezember erlaubt hatte (siehe hier). Gleichwohl bezeichnen Beobachter_innen den Umfang der Operation als außergewöhnlich.
Viel war während der vergangenen Jahre darüber spekuliert worden, wie sich der Brexit auf das Migrationsgeschehen auswirken werde. Drei Fragen standen und stehen dabei im Mittelpunkt: Wie wird sich die neue Situation auf das Grenzregime und die Migrationspfade auswirken? Wie wird Großbritannien nach dem Austritt aus dem Dublin-System mit denen umgehen, die in Fahrzeugen oder Booten auf die Insel gelangen? Und drittens: Was wird das angeblich radikal erneuerte Asylsystem beinhalten, das die Regierung Johnson im vergangenen Jahr – begleitet von einer beispiellosen Hysterie aufgrund der Bootsmigrant_innen – für die Post-Brexit-Phase ankündigte? All dies wird uns in künftigen Beiträgen noch beschäftigen. In Calais selbst wird nun eine indirekte Auswirkung des Brexit sichtbar: Die Legitimation weiterer Metallgitterzäune am heute schon festungsartig gesicherten Kanaltunnel.
Trotz der eisigen Temperaturen, aber begünstigt durch eine ruhige Wetterlage, hat die Zahl der Bootspassagen in den vergangenen Tagen wieder zugenommen. Am 9. Januar erreichten 103 Menschen Großbritannien per Boot; dies waren mehr als im gesamten Januar 2020, als es knapp 100 gewesen waren. Weitere 20 Personen schafften die Kanalquerung am 10. Januar.
Im Jahr 2020 passierten sehr viel mehr Migrant_innen den Ärmelkanal in Booten als jemals zuvor. Laut verschiedenen britischen Quellen waren es über 8.400, vielleicht über 8.700 Personen und mehr als 500 Boote – mehr als viermal so viele wie im Vorjahr und ein Vielfaches mehr als in früheren Zeiten. Während dies nur einen Bruchteil des Migrationsgeschehens nach Großbritannien ausmacht, sind die Boote zur vorherrschenden und effizientesten Migrationstechnik im Calais-Kontext geworden. Aber trotz ihrer hohen Erfolgsausicht hat diese Migrationstechnik Schattenseiten.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 3)
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Im letzten Teil des Interviews spricht Maël Galisson über die Todesfälle auf See, über die Sekuritisierung des Ärmelkanals, über den Umgang mit den Körpern der Toten und über das, was politisch zu tun wäre.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 2)
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Im zweiten Teil des Interviews schildert Maël Galisson einige der insgesamt 297 erfassten Todesfälle im französisch-britischen Grenzraum. Er analysiert die historische und geographische Entwicklung und geht insbesondere den Todesursachen nach: Es sind, so Galisson, vor allem strukturelle Ursachen – untrennbar verbunden mit der Grenz- und Migrationspolitk beider Länder.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 1)
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Maël Galisson dokumentiert seit vielen Jahren die Todesfälle von Exilierten im französisch-britischen Grenzraum. Für die Rechtshilfe-Initiative GISTI, das Londoner Institute of Race Relations und das Permanent Peoples‘ Tribunal legte er kürzlich die Studie Deadly Crossings and the militarisation of Britain’s borders vor, die wir an dieser Stelle bereits vorgestellt haben (siehe hier). In einem Interview mit unserem Blog gibt Maël Galisson nun Auskunft über sein Projekt, diese Grenztoten in Erinnerung zu halten, über die tödlichen Folgen der momentanen Grenz- und Migrationspolitik, über zynische Instrumentalisierungen und über das Unsichtbarmachen der Opfer über ihren Tod hinaus. Wir veröffentlichen das schriftlich geführte Interview in mehreren Teilen.
Die Lebensorte von Exilierten in/bei Calais waren im Laufe des Jahres 2020 mindestens 973 mal von Räumungen betroffen; mindestens 85 weitere Räumungen wurden in Grande-Synthe bei Dunkerque registriert. Beide Zahlen ergeben sich aus Beobachtungen der Human Rights Observers. Bereits am 1. Januar wurden an fünf Plätze in Calais die ersten Räumungen des Jahres 2021 dokumentiert. Weitere Räumungen an sieben Plätzen folgten am 3. Januar: „Die Bewohner hatten nicht die Zeit, ihre persönlichen Sachen wegzubringen; mindestens 12 Zelte wurden beschlagnahmt sowie Decken und Kleider.“ Lakonisch kommentiert die Initiative: „Fundamentale Rechte werden an der französisch-britischen Grenze auch 2021 nicht respektiert.“
Mit dieser Bemerkung beendet die Initiative Human Rights Observers einen Großteil ihrer Berichte über die anhaltenden Räumungen in Calais und Grande-Synthe. Im Jahr 2020 schrieben sie dies zuletzt am 30. Dezember – nach über tausend Räumungen in beiden Städten im Verlauf dieses Jahres. Hier ein Überblick über einige neue Fälle.