Am 5. September 2021 war es ein Jahr her, dass Aleksandra Hazhar wenige Tage nach der Geburt starb. Ihr Tod steht sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Verhalten einer Gendarmeriepatrouille, die der Mutter jede medizinische Hilfe verweigerte, obwohl die Geburt eingesetzt hatte (siehe hier und hier). Während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu dem Fall noch andauern, ist der Jahrestag des Todes Anlass mehrerer öffentlicher Interventionen, die die tödlichen Konsequenzen der Grenzpolitik in den Blick rücken sollen.
Kategorie: Calais
Urteil im Fall Ciotkowski
Tom Ciotkowski aus dem britischen Stratford-upon-Avon war am 31. Juli 2018 als Freiwilliger in Calais tätig, als er Opfer ein Polizeiübergriffs wurde. Zunächst selbst angeklagt, stellte sich bei seinem Strafprozess am 22. Juni 2019 heraus, dass die Anklage auf Falschaussagen von drei CRS-Beamten beruhte. Videoaufnahmen zeigten nämlich, wie er selbst von einem Polizisten über die Leitplanke einer Autobahnauffahrt gestoßen wird und auf die Fahrbahn fällt, wo gerade ein Lastwagen entlang fährt. Im vergangenen Jahr begann dann das Strafverfahren gegen die Polizisten (siehe hier), in dem das zuständige Gericht in Boulogne-sur-Mer nun sein Urteil verkündet hat: 18 Monate Haft auf Bewährung und ein zweijähriges Berufsverbot für den hauptverantwortlichen CRS-Oberbrigardier Laurent M.
Wasser ist politisch
[Mit einem Update, 9. September 2021] Es kommt vor, dass ein einzelnes Detail eine komplexe Situation repräsentiert. Ein solches Detail ist ein wenige Zentimeter langer Messerschnitt durch die Wand eines Trinkwasserbehälters, den das Calais Food Collective vor einigen Tagen aufgestellt hatte.
Die Charity Commission for England and Wales, das Aufsichtsgremium der britischen Regierung für registrierte Wohltätikeitsorganisationen in den beiden Landesteilen, hat eine Untersuchung von Care4Calais eingeleitet. Wie die Kommission am 5. August bekanntgab, bezieht sich die Untersuchung auf die Finanzverwaltung der Organisation. Zwei Mitarbeiter_innen einer Anwaltskanzlei wurden als Interimsmanager_innen eingesetzt. Care4Calais erklärte daraufhin, transparent mit der Kommission zusammenarbeiten zu wollen, ungeachtet dessen aber die Unterstützung der Exilierten fortzuführen.
Wie die in Calais tätige Organisation Utopia 56 am 30. Juli 2021 in einem Tweet mitteilte, hat es einen Angriff auf einen jugendlichen Exilierten in Calais gegeben: „Gestern hielt in Calais ein Auto am Rande eines Camps von exilerten Personen und schoss auf einen 15-jährigen Jungen. Er wurde in den Rücken geschossen. Er ist geschockt, aber nicht in Gefahr.“ Über Ablauf, Hintergründe und Motiv der Tat ist bislang nichts Näheres bekannt.
Erneute Räumung des Magnésia-Areals
„Keine Ferien bei den Schikanen gegen Exilierte in Calais: Hunderte Menschen, die im Juni aus einem Camp vertrieben wurden, wurden heute Morgen erneut verjagt, ihre Habseligkeiten wurden […]. Einige Familien schlafen auf dem Boden.“ Mit diesen Worten kommentierte Utopia 56 am 9. Juli 2021 die abermalige Räumung des prekären Lebensorts von Exilierten auf dem Magnésia-Areal südlichen Rand von Calais.
Zu unseren Beiträgen über die Auseinandersetzungen in den frühen Morgenstunden des 2. Juni 2021 (siehe hier und hier) ist ein Nachtrag erforderlich. Denn inzwischen wurde deutlich, dass zwei Exilierte in diesem Zusammenhang gegen 4 Uhr morgens durch Gummigeschosse der CRS am Kopf getroffen wurden und dadurch jeweils ein Auge verloren. Einer der Betroffenen war minderjährig. Dies bestätigten die Human Rights Observers in einem aktuellen Hintergrundgespräch mit unserem Blog in Calais.
Am 26. Juni protestierten in der Calaiser Innenstadt etwa 60 Menschen mit Kundgebungen und ironischen Inszenierungen gegen das seit September 2020 immer wieder verlängerte Verbot von Nahrungs- und Wasserverteilungen an Migrant_innen. Das von der Präfektur erlassene Verbot lässt in weiten Teilen von Calais lediglich Versorgungsleistungen zu, die von einer einzigen staatlich beauftragten Organisationen durchgeführt werden (siehe hier, hier, hier und hier). Den zivilgesellschaftlichen Organisationen hingegen ist die Ausgabe von Trinkwasser und Nahrung in Reichweite der Camps faktisch untersagt. Diese aber stellt nach wir vor einen wesentlichen Teil der Grundversorgung der Exilierten dar.
Mit einer Petition an die Préfecture du Nord versucht die Rechtshilfe La Cabane Juridique momentan die Abschiebung eines eritreischen Exilierten in die Niederlande zu verhindern. Betroffen von der drohenden Maßnahme ist der Mann, der am 11. November 2020 in Calais durch einen Polizeieinsatz schwer verletzt worden war: Er war durch ein Gummigeschoss, dass ein CRS-Beamter aus weniger als zehn Metern Entfernung auf ihn abgeschossen hatte, am Kopf getroffen worden. Über den Fall hatten zahlreiche französische Medien, darunter die Libération, berichtet (siehe hier und hier).
Im Raum der Extralegalität
Zu den von Utopia 56 öffentlich gemachten Misshandlungen
Auf dem Rücksitz des Polizeiwagens zusammenschlagen – Brandwunden mit dem Feuerzeug zufügen – einen Mann durch Urinieren wecken – einem anderen die Schuhe wegnehmen und ihn barfuß an der Autobahnauffahrt zurücklassen – Familienzelte mit CS-Gas einsprühen. – Der Migrationsforscher Michel Agier beschrieb den Jungle von Calais in seinem gleichnamigen Standardwerk [1] als einen Lebensort innerhalb der dort zur Falle gewordenen Grenze, der zugleich durch drei Dimensionen der Ausgrenzung konstituiert ist: die Exklusion der Menschen, die (faktische) Extraterritorialität des Raumes und Extralegalität des Status. Der Jungle als Hüttenstadt vieler tausend Bewohner_innen, der im Mittelpunkt der Analyse Agiers und seines Teams stand, besteht seit knapp fünf Jahren nicht mehr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mechanismen des Verdrängens der Exilierten in gleichsam rechtsfreie Zonen damit beendet wären. Die oben umrissenen Gewaltakte, die laut einer Mitteilung von Utopia 56 von Angehörigen der Sicherheitskräfte an Exilierten in Calais verübt wurden (siehe hier), sind nur denkbar in einem solchen Raum suspendierter (menschen)rechtlicher Normen, in dem die Handlungsmacht der Polizei gleichsam entgrenzt ist – sei es, dass ihnen ein solcher extralegaler Handlungsraum gewährt wird, sei es, dass sie ihn sich selbst aneignen. Inzwischen ist mehr über die Fälle, ihren Kontext und ihre möglichen Konsequenzen bekannt geworden.