Auch in Deutschland gibt es Gruppen, die humanitäre, solidarische und politische Arbeit mit Bezug auf Calais leisten. Einige von ihnen wollen wir auf diesem Blog vorstellen. So wurden etwa aus Düsseldorf im Jahr 2021 bereits zwei Transporte mit Spenden für die Exilierten organisiert. Ein dritter ist in Planung. Wir haben mit Benedikt Schmitz, dem Initiator dieser Düsseldorfer Hilfstransporte gesprochen.
Kategorie: Calais
Indigene, Immigrierte und Infantile
Für die Beschreibung und die Analyse der Entwicklungen in Calais sind Ansätze ungeeignet, die auf das Bewusstsein und die Weltsicht der in Politik und Verwaltung Handelnden abzielen. Die Politik einer feindlichen Umgebung, der Abschreckung und Schikane und die Situation einer Grenzfalle bedingen einen Bezug auf grundlegende Kategorien von Freiheits- und Menschenrechten, bei deren Verletzung das Bewusstsein ihrer Verursacher egal sein dürfte.
Im Winter 2021 ließ die Stadt Calais eine von der katholischen Kirche eingerichtete Notunterkunft La Crèche (Die Krippe) für minderjährige Exilierte schließen. Als formale Handhabe dienten Brandschutzvorschriften, was zu der zynische Situation führte, dass die betroffenen Personen unter Verweis auf ihre Sicherheit in die Unsicherheit verdrängt wurden. Das Vorgehen hatte den Bischof von Arras, zu dessen Diözese Calais gehört, und die Präsidentin der französischen Caritas (Secours Catholique) zu einer scharfen Kritik am Umgang mit den Migrant_innen veranlasst (siehe hier und hier). Während die meisten der betroffenen Jugendlichen in einem anderen Gebäude untergebracht wurden und dort zumindest bis Pfingsten bleiben können, klagten der Diözesanverband und Secours Catholique gegen die Stadt Calais, um eine Wiedereröffnung der Crèche zu erreichen. Die Intervention scheiterte: Das Verwaltungsgericht Lille gab am 28. April 2021 der Stadt Calais recht.
Räumung in Coquelles
Der Lokalzeitung La voix du Nord zufolge hat in Calais‘ westlicher Nachbargemeinde Coquelles am 27. April 2021 eine größere Räumung stattgefunden. Sie betraf ein erst seit wenigen Wochen bestehendes Camp in der Nähe des ehemaligen Möbelhauses Conforama an der Gemeindegrenze von Calais und Coquelles. Das ursprüngliche Camp unter einem Vordach des leerstehenden Gebäudes war im März durch schwere Steine versperrt worden (siehe hier).
Eine filmische Dokumentation
Utopia 56, gegründet 2016 angesichts der Situation Geflüchteter in Calais, wurde in den vergangenen Jahren zu einer Hilfsorganisationen für Geflüchtete in Frankreich. Mit wenigen Mitteln organisieren sie Unterkünfte, die Ausgabe von Zelten und Kleidung und greifen in Notsituationen ein, etwa um den Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Im vergangenen Winter hat der Journalist Ulysse Cailloux das Team von Utopia 56 nach Calais und Grande Synthe begleitet. Vom 26. bis 28. Dezember 2020 filmte er das tägliche Leben der jungen Aktivist_innen.
Am 15. April 2021 veröffentlichten die Human Rights Observers (HRO) ihren Jahresbericht Observations des violences d’État a frontière Franco-Britannique. Das 49seitige Dokument beruht auf einer systematischen und kontinuierlichen Beobachtung des Polizeiverhaltens in Calais und Grande-Synthe während des vergangenen Jahres. Bereits einige Zahlen machen von Neuem das Ausmaß der Gewalt sichtbar: 967 dokumentierte Räumungen migrantischer Lebensorte in Calais plus 91 in Grande-Synthe, zusammen 1058. Dabei wurden in Calais mindestens 2816 Zelte/Planen, 802 Schlafsäcke/Decken, 228 Taschen, 116 Fahrräder und anderer persönlicher Besitz bechlagnahmt. In Grande-Synthe waren es mindestens 2110 Zelte/Planen, 357 Schlafsäcke/Decken und 32 Taschen. In Calais wurden 349 und in Grande-Synthe 149 Personen während einer Räumung festgenommen.
Serie neuer Räumungen in Calais
Am Nachmittag des 6. April 2021 fand in Calais eine Serie neuer Räumungen statt. Sie richtete sich gegen insgesamt sechs Camps, war mit der Wegnahme von persönlichem Eigentum im großen Umfang verbunden und unterschied sich von den „normalen“ morgendlichen Polizeioperationen im 48-Stunden Turnus. Die Räumungen geschahen unangekündigt und überraschten die Geflüchteten, die zwar vor Ort bleiben konnten, aber kaum eine Möglichkeit hatten, ihre Sachen in Sicherheit zu bringen. Am heutigen 9. April folgten weitere Räumungen, die sich gegen die verbliebenen Camps unter den Quaibrücken in der Calaiser Innenstadt richteten. Wir werden auf die Entwicklung noch genauer eingehen und dokumentieren zunächst eine Presseerklärung der Human Rights Observers zu den Ereignissen am 6. April.
Während die Räumung eines eritreischen Camps in Calais durch eine bemerkenswerte juristische Intervention verhindert werden konnte (siehe hier), wurden andere migrantische Lebensorte in Grande-Synthe und Calais geräumt und unbrauchbar gemacht. Dabei griffen die Behörden zu brachialen Methoden: In Grande-Synthe wurde ein Gelände, das als Camp und Treffpunkt u.a. mit improvisierten Teestuben gedient hatte, nach der Räumung umgepflügt. In Calais wurde ein von Migrant_innen genutztes Gewerbegrundstück mit tonnenschweren Felsklötzen versperrt.
Am 18. März 2021 wurde auf dem Gelände des BMX-Camps am östlichen Rand von Calais eine Räumungsverfügung der Kommune ausgehängt. Dies ist das übliche Verfahren, mit dem Räumungen eingeleitet werden, die auf eine Auflösung des betreffenden Siedlungsplatzes zielen und sich dadurch von den viel häufigeren Räumungen im 48-Stunden-Turnus unterscheiden. Wie auch in vergleichbaren Fällen (siehe u.a. hier und hier), beinhaltete das Verfahren eine Anhörung vor dem Verwaltungsgericht, die für den 23. März anberaumt war. Das Gericht lehnte den Räumungswunsch der Stadt ab.
In Calais und Grande-Synthe wurde im vergangenen Jahr mehr als 1.000 mal ein migrantisches Camp geräumt, und nahezu bei jeder dieser Operationen wurden Schutzgüter und persönlicher Besitz der Geflüchteten beschlagnahmt. Erwartungsgemäß setzt sich diese Politik der gezielten Prekarisierung auch in diesem Jahr fort. Allein im Januar und Februar wurden in Calais und Grande-Synthe 206 Räumungen dokumentiert, in deren Verlauf mindestens 1.318 Zelte und 587 Schlafsäcke beschlagnahmt (d.h. in vielen Fällen: zerstört) wurden. Der Umfang der Beschlagnahmungen liegt damit um das Dreifache höher als vor einem Jahr. Und es zeichnet sich ab, dass auch die in Nordfrankreich seit Anfang März virulente dritte Welle der Corona-Pandemie nicht zu einem Aussetzen dieser Operationen führen wird.