Am 2. November 2023 erreichte das Orkantief Ciaran die Ärmelkanalregion. Der Sturm stellte für die Camps bei Calais und Dunkerque eine Bedrohung dar. An beiden Orten stellten die Behörden Notunterkünfte bereit. Doch lokale Initiativen und Medien weisen darauf hin, dass sie nur für einen Teil der Camp-Bewohner_innen ausreichten und von vielen nicht angenommen wurden. Hunderte Geflüchtete waren daher dem Sturm ausgesetzt.
Kategorie: Calais
Nach der Räumung des Camps Old Lidl in Calais (siehe hier) führten die Behörden zwei weitere Räumungen durch. Beide galten dem Jungle in Loon-Plage bei Dunkerque – für viele Exilierte die letzte Station vor der Bootspassage nach Großbritannien. Innerhalb von weniger als zwei Wochen waren damit fast alle Geflüchtete, die in Nordfrankreich auf ihr Weiterkommen nach Großbritannien warten, von einer Räumung betroffen.
Old Lidl: Massive Räumung im Logistikpark
Am Rand von Calais kam es am 10. Oktober zu einer der größten polizeilichen Räumungen eines Camps seit 2016. Betroffen war, wie bereits im Juni (siehe hier und hier), das Camp Old Lidl. Mit bis zu tausend Bewohner_innen meist sudanischer Herkunft war es der größte informelle Lebensort im Raum Calais. Einen Tag nach der Räumung begannen Bewohner_innen mit dem Wiederaufbau. Nach wie vor ist die Entwicklung des Camps eng mit einem Gewerbegebiet verflochten, über das ein Großteil des Frachtverkehrs nach Großbritannien läuft. Die Erschließung neuer Flächen für Firmenansiedlungen bildet den Hintergrund der aktuellen Räumung – und ist Teil einer expandierenden Hochsicherheitslandschaft im Vorfeld der britischen Grenze.
Wenige Tage nach dem Tod einer Eritreerin bei einer Bootspassage (siehe hier) starben zwei weitere Geflüchtete im nordfranzösischen Grenzraum. Beide Todesfälle ereigneten sich am 30. September 2023: In Calais wurde ein Mann von einem Zug erfasst und in Loon-Plage bei Dunkerque ertrank ein Mann in einem Kanal.
[Updated, 30. September 2023]
Eine junge Frau aus Eritrea verlor am 26. September 2023 bei einer versuchten Bootspassage ihr Leben. Medienberichten zufolge wurde an einem Strand westlich von Calais ihr Tod festgestellt, nachdem sie bewußtlos ins Meer gestürzt war – möglicherweise weil sie über Bord geworfen wurde – und ihr Partner vergeblich versucht hatte, sie zu retten. Nach der Havarie vom 12. August, bei der sechs Menschen ertranken (siehe hier und hier), ist es der zweite Todesfall während einer Bootspassage im laufenden Jahr.
Eine Wende im Kampf um Trinkwasser
Nach einem Rechtsstreit in der Normandie besteht auch in Calais und Dunkerque die Hoffnung, einen menschenwürdigen Zugang zu Wasser juristisch durchsetzen zu können: Der Staatsrat (Conseil d’État) verpflichtete die dortigen Behörden durch seinen Beschluss vom 3. Juli 2023, den Bewohner_innen eines Camps Trinkwasser und Waschmöglichkeiten bereitzustellen. Die Entscheidung dürfte auf die nordfranzösische Kanalküste übertragbar sein. Seit Jahren verknappen die Behörden hier den Zugang zu Trinkwasser und Waschgelegenheiten, um den Lebensalltag der Exilierten abschreckend zu gestalten – und brechen damit die nun vom Staatsrat bestätigten Prinzipien.
In den letzten vier Tagen, vom 7. bis zum 10. Juli, haben nach britischen Angaben 1.677 Migrant_innen den Ärmelkanal in ingesamt 31 kleinen Booten erfolgreich überquert.
Am vergangenen Freitag haben 686 Menschen in 13 Booten, am Samstag und Sontag 384 bzw. 269 Menschen in 7 bzw. 5 Booten und gestern 338 Menschen in 6 Booten Großbritannien erreicht.
Für den britischen Premierminister Rishi Sunak dürften die aktuellen Zahlen, nach der in zweiter Instanz erlittenen juristischen Niederlage für den Ruanda-Plan, einen weiteren Rückschlag bedeuten. Er hatte noch vor einem Monat den temporären Rückgang der Zahlen um rund 20 Prozent als einen Erfolg seiner repressiven Migrationspolitik gedeutet.
Erneuter Todesfall in Calais
Erneut ist in Calais ein Exilierter ums Leben gekommen. Der junge Mann, dessen Identität noch unklar ist, wurde am 4. Juli 2023 mit tödlichen Verletzungen im Bereich einer Autobahn gefunden. Erste Ermittlungen lassen vermuten, dass er versucht hatte, per Lastwagen nach Großbritannien zu gelangen. Es ist der vierte Todesfall eines Exilierten, der seit Jahresbeginn für Calais dokumentiert ist.
Räumung des Camps Old Lidl (2)
Nach der Räumung des Camps Old Lidl am 1. Juni 2023 erklärte die Präfektur, knapp 300 Bewohner_innen hätten sich freiwillig in teils weit entfernte Aufnahmezentren bringen lassen. Die Darstellung der Behörde erweckt den Eindruck, man habe den Exilierten lediglich „Vorschläge“ gemacht, die bereitwillig angenommen worden seien. Als die NGO Human Rights Observers (HRO) widersprach, beharrte die Behörde auf der behaupteten Freiwilligkeit. Die Menschenrechtsbeobachter_innen legten nun Video- und Fotomaterial vor, das belegt: Der Transport in die Aufnahmezentren erfolgte nicht freiwillig. Vielmehr stiegen die Exilierten „unter strenger Überwachung durch die Ordnungskräfte“ und angesichts einer möglichen Festnahme durch die anwesende Grenzpolizei in die Busse.
Räumung des Camps Old Lidl
Mehrere Jahre lang siedelten hunderte Exilierte auf einem Gelände an der Stadtgrenze von Calais, das offiziell unter dem Namen La Turquerie und inoffiziell als Old Lidl bekannt ist. Zuletzt war es der größte informelle Lebensort in Calais und Umgebung. Die meisten Bewohner_innen waren sudanischer Herkunft. Old Lidl war immer wieder Ziel routinemäßiger (Teil-)Räumungen und Beschlagnahmungen; Teile des Geländes wurden unbenutzbar gemacht und humanitäre Arbeit gezielt behindert. Seit 2022 wird das Areal für die Erweiterung des benachbarten Gewerbegebiets Transmarck vorbereitet und seit Jahresbeginn ein Logistikzentrum errichtet. Am 1. Juni 2023 wurde das Camp vollständig geräumt – diesmal mit dem Ziel, es endgültig aufzulösen. Die Räumung geschah einen Tag, nachdem ein Bewohner in Transmarck durch einen Laster tödlich verletzt worden war (siehe hier).