Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist seit Ende 2021 an der französischen Kanalküste mit einem Flugzeug im Einsatz (siehe hier und hier). Am Rande des Gipfeltreffens des Europarats in Reykjavík einigten sich der britische Premierminister Rishi Sunak und EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen nun darauf, den Frontexeinsatz durch ein Abkommen zu regeln. Bezogen auf das politische Streitthema der undokumentierten Migration über den Ärmelkanal wäre es die erste Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union seit dem Brexit. Angekündigt ist allerdings lediglich eine Vereinbarung auf Arbeitsebene, nicht aber das von der Londoner Regierung seit langem eingeforderte Vertragswerk zur umfassenden Bekämpfung der Bootspassagen.
Schlagwort: Bootspassagen
Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am 19. April, die britische Regierung erwarte die Ankunft von 56.000 Bootspassagier_innen im laufenden Jahr. Dies wären etwa zehntausend Personen mehr als im Jahr 2022. Tatsächlich jedoch liegt die Zahl der Menschen, die seit Jahresbeginn auf der Kanalroute übergesetzt sind, momentan etwas unter dem Vorjahr. Auch im vergangenen Jahr hatten britische Medien über amtliche Prognosen berichtet, die stark über der tatsächlichen Zahl der Geflüchteten auf der Kanalroute lagen.
Steuern und Töten
Über die Anklage eines Überlebenden der tödlichen Havarie am 14. Dezember 2022

Gegen Ibrahima Bah, einen 19 Jahre alten Überlebenden der tödlichen Havarie am 14. Dezember 2022, ist in Großbritannien zum zweiten Mal Anklage erhoben worden. Bezog sich die erste Anklage auf den Vorwurf der Beihilfe zur „illegalen“ Einreise, so steht der junge Mann nun wegen manslaugter (Totschlag) vor Gericht. Der Vorwurf stützt sich allein darauf, dass er das havarierte Boot gesteuert haben soll. Der Fall reiht sich damit in eine zweifelhafte Praxis europäischer Strafverfolgungsbehörden ein.
Das Schiff Bibby Stockholm
Ein antimigrantisches Symbol wird Teil der britischen Grenzpolitik

Das Schiff Bibby Stockholm ist eine Art transportabler Wohnblock, in dem in den vergangenen Jahrzehnten wechselweise Asylsuchende, Abschiebehäftlinge und Arbeiter_innen maritimer Baustellen lebten. In Deutschland erlangte das Schiff in den 1990er-Jahren eine fragwürdige Bekanntheit, als es als Massenunterkunft in Hamburg diente. Aufgrund seiner Geschichte kann das Schiff als ein migationspolitisches Symbol gelesen werden: Nicht mehr auf See, aber noch nicht an Land, symbolisierte einen Aufenthalt ohne Ankommen, ein Leben unter Vorbehalt. In einigen Monaten soll das Schiff nun im südenglischen Hafen Portland Geflüchtete beherbergen. Die Maßnahme ist Teil einer massiven Verschärfung der britischen Grenz- und Asylpolitik, die sich gezielt gegen Menschen richtet, auf Schlauchbooten nach Großbritannien gelangen und von einem Asyl auf britischem Boden radikal ausgeschlossen werden sollen.
Nachdem im Februar deutlich mehr Geflüchtete den Ärmelkanal in kleinen Booten passiert haben als in den Vorjahresmonaten (siehe hier), lag ihre Zahl im Monat März etwas niedriger: War die Überfahrt bis Ende Februar bereits 3.147 Menschen gelungen, waren es Ende März nach vorläufigen Angaben 3.790. Im Gegensatz zum März des vergangenen Jahres, als punktuell über 400 Menschen in derselben Nacht übersetzten, waren es an günstigen Tagen nun höchstens halb so viele. Der Monat war von anhaltend ungünstiger Witterung geprägt, sodass nur an sieben Tagen überhaupt Boote übersetzten. Hieraus einen Effekt der drakonischen Gesetzesinitiative der britischen Regierung gegen die Bootspassagier_innen abzuleiten, wäre vor diesem Hintergrund verfehlt. Zugleich berichten sowohl die Behörden als auch die Hilfsorganisation Utopia 56 von brennenden Booten an der nordfranzösischen Küste.
(Mit einem Update vom 31. März 2023) Wenige Wochen, nachdem die Londoner Regierung eines der restriktivsten Migrationsgesetze Europas auf den Weg gebracht hat (siehe hier), erwarten britische Medien noch eine weitere Verschärfung: Offenbar ist geplant, Asylsuchende nicht mehr, wie bisler üblich, in Hotels unterzubringen, sondern auf stillgelegten Fähren und auf Militärstützpunkten. Die Verschärfung soll sowohl für Menschen gelten, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien übersetzen, als auch für solche, die bereits ein Anerkennungsverfahren durchlaufen.
In den ersten Novembertagen des Jahres 2021 starben an der nordfranzösischen Küste mehrere Exilierte (siehe hier). Ihre Todesfälle ereigneten sich unabhängig voneinander teils auf See, teils an Land. In Dunkerque wurde einer dieser Fälle nun vor Gericht verhandelt. Angeklagt war ein kurdischer Mann aus dem Iran, dem fahrlässige Tötung, Beihilfe zur Überfahrt und Gefährdung anderer Personen vorgeworfen wurde. Der Prozess endete mit einem Schuldspruch, zeigte jedoch auch, dass der Angeklagte nicht zu den Profiteuren der gescheiterten Grenzpassage gehörte.
Am 7. März 2023 hat die Regierung in London ein neues Gesetz zur „Verhinderung und Abschreckung illegaler Migration“, insbesondere über „unsichere und illegale Routen“, vorgestellt. Die “Illegal Migration Bill“ ist die insgesamt 43. Initiative der britischen Regierung zur Änderung des Asylrechts in den letzten drei Jahren und der Versuch, das Versprechen des aktuellen Premierministers Rishi Sunak, die Zahl der Migrant*innen, die den Ärmelkanal in small boats überqueren, einzudämmen.

Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Illegal Immigration Bill – der bislang schärfsten Gesetzesinitiative gegen die Geflüchteten auf der Kanalroute – nutzte Rishi Sunak das 36. britisch-französische Gipfeltreffen am 10. März 2023 in Paris als Bühne, um weitere Maßnahmen anzukündigen. Nicht ganz 50 Sekunden brauchte der britische Premierminister in seinem seinem Statement auf der Pressekonferenz, um auf die irreguläre Migration und die small boats im Ärmelkanal zu sprechen zu kommen. Ein knappes Viertel seiner Redezeit widmete er dem Thema, noch bevor er auf den Krieg gegen die Ukraine, die Energieversorgung und die militärische Zusammenarbeit zu sprechen kam.
In der beginnenden Woche wird der britische Premierminister Rishi Sunak zunächst seine Pläne zur Verschärfung des Asylrechts darlegen und wenige Tage später mit dem französischen Präsidenten Macron zu einem Regierungsgipfel zusammenkommen. Voraussichtlich wird es auf eine Gesetzesinitiative zur Deportation aller Bootsmigrant_innen nach Ruanda oder in ein anderes Drittland hinauslaufen, die u.a. durch die Festsetzung der betroffenen Menschen in lagerähnlichen Einrichtungen flankiert sein wird. Ob es Sunak außerdem gelingt, Frankreich oder die EU zu einem seit Jahren angestrebten Rücknahmeankommen zu bewegen, wird sich zeigen. Was jedoch jetzt bereits klar ist: Ungeachtet aller auf Abschreckung zielenden Kampagnen der vergangenen Monate und Jahre ist die Zahl der Bootspassagen in diesem Winter weiter angestiegen. Wie die BBC unter Berufung auf das Innenministerium mitteilt, erreichten seit Jahresbeginn 2.950 Menschen in small boats britisches Hoheitsgebiet. Die Marke von 3.000 Passagier_innen war im Jahr 2022 erst in der zweiten Märzhälfte und im Jahr 2021 im Mai erreicht worden (siehe hier und hier).