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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Utopia 56 über Polizeigewalt im Vorfeld von Bootspassagen

Seit Beginn des Jahres gelang rund 14.000 Menschen die Bootspassage des Ärmelkanals. Auf ihrer Reise sind die nordfranzösischen Strände der letzte Ort, an dem die französischen Behörden regulär und systematisch eingreifen, um das Ablegen der Boote zu unterbinden. Befindet sich ein Boot bereits auf See, wird es in den französischen Hoheitsgewässern nicht an der Weiterfahrt gehindert – so die Faustregel, bevor im Frühjahr dann doch ein Pullback-Fall bekannt wurde (siehe hier). Nach wie vor aber fokussieren die Polizei- und Gendarmeriebehörden ihre personellen und technischen Ressourcen auf einschlägige Küstenstreifen und deren Hinterland; auch die Luftüberwachung durch Frontex konzentriert sich auf dieses Gebiet. Die weitläufigen und bei Nacht meist menschenleeren Strand- und Dünengebiete sind zum Schauplatz der Auseinandersetzung um das Ablegen der Boote geworden, in deren Verlauf es schon in der Vergangenheit zu gewalttätigen Übergriffen auf Migrant_innen kam (siehe hier). Aktuell meldet Utopia 56 eine Zunahme dieser Form grenzpolitischer Gewalt und macht drei Fälle öffentlich, die sich zwischen dem 3. und 6. Juli 2022 ereignet haben.

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Channel crossings & UK

Scheitert die Militarisierung der Kanalgrenze?

Nach der Rücktrittsankündigung von Boris Johnson als britischer Premierminister loten mehrere führende britische Verteidigungspolitiker das Ende des Einsatzes der Royal Navy zur Verhinderung von Kanalpassagen in kleinen Booten aus. Laut einem Beitrag des Guardian vom 9. Juli sind sie angesichts wachsender globaler Sicherheitsbedrohungen frustriert darüber, Ressourcen für einen Plan aufzuwenden, der aus ihrer Sicht bereits gescheitert ist: seit der Übernahme der Führung durch die Marine Mitte April, seien doppelt so viele Überfahrten registriert worden wie in den drei Monaten davor.

Watchkeeper-Drohne auf dem Flughafen Lydd in Kent im August 2020 (Foto: Corporal Anil Gurung, Ministry of Defence (United Kingdom). Lizenz: OGL3)
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Channel crossings & UK

„We are going to kill ourselves“

Videobotschaft eines syrischen Geflüchteten, veröffentlicht von der Initiative Led By Donkeys am 10. Juni 2022. (Quelle: Led By Donkeys / YouTube)

In der oben stehenden Botschaft berichtet ein Syrer über die Gewalt, die er im Krieg erlebte, auch und vor allem durch Russland. Er spricht vom Verlust enger Angehöriger, von Gefangenschaft, der Überquerung zweier Meere und der Empathie, die er für Geflüchtete aus der Ukraine empfindet. Sodann beschreibt der Mann seine Erschütterung, als er sich nach der Ankunft in Großbritannien in Haft wiederfand und erfuhr, dass er nach Ruanda deportiert werden solle. Er spricht von Angst und Schlaflosigkeit im Brook House Immigration Removal Centre am Gatwick Airport – und einem Entschluss: „If they try to deport us to Rwanda, we all are going to kill ourselves.“ Seine Botschaft, die aus Furcht vor Repressalien von einem Schauspieler nachgesprochen ist, wurde vier Tage vor dem geplanten ersten Abschiebeflug – dieser soll am 14. Juni stattfinden – von der Gruppe Led By Donkeys veröffentlicht, die gern mit satirischen Mitteln arbeitet. Aber dies hat nichts mit Satire zu tun.

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Channel crossings & UK

10.000 Passagen einer militarisierten Grenze

Im Ärmelkanal, Mai 2022. (Foto: Channel Rescue).

Wie britische Medien Anfang Juni meldeten, haben seit Jahresbeginn 9.988 Personen die britische Seegrenze in kleinen Booten passiert. Inzwischen dürfte ihre Zahl auf über 10.000 angestiegen sein. Zum Vergleich: Im Vorjahr war Mitte Juni die Zahl von 5.000 (siehe hier) und Anfang August die Zahl von 10.000 Bootspassagier_innen (siehe hier) erreicht worden, und 2019 hatte die Zahl bei Jahresesende noch unter 2.000 gelegen. Das Überschreiten der symbolpolitisch gut verwertbaren 10.000er-Marke dürfte den populistischen Diskurs in Großbritannien weiter anheizen, obwohl sie eher das Scheitern einer auf Migrationsverhinderung fokussierten Politik offenbart. Trotz der massiven Einschnitte der britischen Regierung in das Asylsystem, trotz der Drohung mit Deportationen nach Ruanda und trotz der Kompetenzübertragung auf das Militär – alle diese Maßnahmen datieren in die erste Jahreshälfte – wurde die Kanalroute von doppelt so vielen Menschen frequentiert wie ein Jahr zuvor.

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Calais Channel crossings & UK

Pullback im Ärmelkanal

Pullback bei Calais, 6. Mai 2022. (Foto: Privat / Utopia 56)

Wie die Organisation Utopia56 am 31. Mai 2022 mitteilte, hat am 6. Mai 2022 zum ersten Mal nachweislich ein „Pullback“ im Ärmelkanal stattgefunden. Pullbacks sind Maßnahmen, mit denen Migrant_innen daran gehindert werden, die Grenze ihres Ziellandes zu erreichen. Sie stellen vorverlagerte Pushbacks dar, bei denen Migrant_innen nach dem Überschreiten einer Grenze zurückgedrängt werden, ohne Berücksichtigung ihrer individuellen Umstände und ohne die Möglichkeit, Asyl zu beantragen oder Argumente gegen die getroffenen Maßnahmen vorzubringen. Damit wird unter anderem Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verletzt, welcher garantiert: „Jeder Mensch hat das Recht jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren“. Bisher sind diese teils gewaltvollen Zurückweisungen von Schutzsuchenden vor allem aus dem Mittelmeer bekannt. Ein Versuch Großbritanniens, Pushbacks auch im Ärmelkanal zu etablieren, scheiterte im April (siehe hier). Frankreich wiederum hatte die britische Forderung, Bootsmigrant_innen in seinen eigenen Hoheitsgewässern abzufangen, also Pullbacks im Interesse Großbritanniens durchzuführen, bislang kategorisch abgelehnt.

Nachfolgend dokumentieren wir den Bericht von Utopia56 in eigener Übersetzung:

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Channel crossings & UK

Die Bootspassagen und das Ruanda-Programm

Ablegestelle der Boote: Die Slack-Dünen bei Wimereux zwischen Calais und Boulogne-sur-mer, März 2022. (Foto: Th. Müller)

Zwischen der Unterzeichnung der britisch-ruandischen Vereinbarung zur zwangsweisen Umsiedlung von Asylsuchenden am 13. April und der Verabschiedung des verschärften Einwanderungsgesetzes am 27. April (siehe hier und hier) sank die Zahl der Bootspassagen auf der Kanalroute von 651 Passagieren (13. April) auf Null zwischen dem 20. und 30. April. Dieser Rückgang war offensichtlich witterungsbedingt, doch kam er der britischen Regierung gelegen, suggerierte er doch eine unmittelbare abschreckende Wirkung der geplanen Ruanda-Abschiebungen. In der Tat lösten die Pläne der Regierung Ängste aus, doch bedeutet dies keineswegs, dass sie die Bootspassagen des Ärmelkanals stoppen werden. Die Zahl der Passagen liegt in den ersten vier Monaten dieses Jahres bislang um das Dreifache höher als im Vorjahreszeitraum und eine Umfrage unter Geflüchteten in Calais und Dunkerque ergab, das die Mehrzahl von ihnen trotz des Ruanda-Programms die Bootspassage versuchen wird. Auch das Programm selbst lässt sich nicht so schnell realisieren, wie es die Regierung angekündigt hatte. Die juristische Anfechtung zeigt Wirkung.

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Channel crossings & UK

Aus für Pushbacks im Ärmelkanal

Tweet der Gewerkschaft PCS zum Erfolg der Klage gegen Pushbacks, 25. April 2022 (Quelle: PCR Union / Twitter).

Wie die Public and Commercial Services (PCS) Union, Care4Calais, Channel Rescue und Freedom from Torture am heutigen 25. April 2022 mitteilen, hat die britische Regierung ihr Vorhaben aufgegeben, die Boote von Geflüchteten im Ärmelkanal gewaltsam zurückzudrängen. Die vier Organisationen haben damit einen bedeutenden menschenrechtspolitischen Erfolg erzielt: Denn im Zuge ihrer gemeinsamen Klagen gegen die seit Spätsommer 2021 vorbereiteten Pushbacks war ans Licht gekommen, dass die Regierung frühzeitig darüber informiert war, dass sie diese Maßnahme aus rechtlichen Gründen nie gegen Asylbewerber_innen würde anwenden können. Dennoch hielt sie an ihrem Vorhaben fest und täuschte darüber hinaus gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit vor, im legalen Rahmen – wenn auch unter eng umrissenen Bedingungen – solche Pushbacks durchführen zu können. Eine Woche vor der Anhörung des Falls vor dem High Court teilte die Regierung nun mit, dass sie ihre bisherige Pushback-Politik aufgegeben hat.

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Channel crossings & UK

Fortschaffung nach Ruanda

Werbegrafik der britischen Regierung für Offshore processings. (Quelle: UK Home Office / Twitter)

Die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta unterzeichneten am 13. April 2022 in Kigali ein Memorandum über eine künftige Asylpartnerschaft. Sollte diese realisiert werden, so könnte Großbritannien Migrant_innen, die ‚illegal‘ über den Ärmelkanal gelangt sind, nach einem Schnellverfahren nach Ruanda umsiedeln, wo sie dann ein Asylverfahren nach ruandischem Recht durchlaufen und bei einem povsitiven Ausgang in dem afrikanischen Staat verbleiben würden. Jemand, der beispielsweise aus Afghanistan, dem Sudan, Eritrea oder dem Iran über Dunkerque oder Calais nach Großbritannien gelangt ist, würde sich also in Ruanda wiederfinden und hätte – so die Vorstellung der Regierung Johnson – keine legale Möglichkeit mehr, es noch einmal in Großbritannien zu versuchen. Im Zentrum der Asylpartnerschaft steht also eine Zwangsumsiedlung der betroffenen Menschen in ein Land, aus dem sie nicht stammen, das sie auf ihrer Migrationsreise nicht passiert haben und in das sie nicht wollten. Sollte das Vorhaben Wirklichkeit werden, wäre dies nicht nur eine Zäsur in der Geschichte der Kanalroute, sondern ein gefährlicher Präzedenzfall in einem instabiler werdenden Europa. Zeitgleich mit dem britisch-ruandischen Memorandum übertrug Boris Johnson das operative Kommando über die UK Border Force im Ärmelkanal der Royal Navy und vollzog damit eine Militarisierung des Grenzregimes.

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Calais Channel crossings & UK

Projekt Terminus

Das verschobene Projekt der „Anti-Schleuser-Kameras“ zeigt die banalen Grenzen der Sekuritisierung

Überwachungskamera in Calais, März 2022. (Foto: Th. Müller)

Wer den Ausbau der Infrastrukturen zur Bekämpfung der Bootspassagen über eine längere Zeit beobachtet, wird feststellen, dass sie nicht frei von Friktionen war. Zwar ist die Sekuritisierung der neuralgischen Küstenabschnitte um Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer nicht zu übersehen: Neue Fahrzeuge und neues Equipment der personell verstärkten Polizei- und Gendarmeriebehörden sind im Einsatz, nachts kreisen Drohnen über den Dünen und ein Frontex-Flugzeug überfliegt von Lille aus die Küstenlinie. Ein Checkpoint an der E 40, die von Deutschland über Belgien nach Dunkerque und Calais führt, soll knapp hinter der französische Grenze das Heranschaffen von Schlauchbooten verhindern. Und als sich im vergangenen Herbst ein Vigipirate-Fahrzeug bei einem pubertären Fahrmanöver auf dem Gelände des Camps Old Lidl im Morast festfuhr und mithilfe der Campbewohner_innen im Wortsinne aus dem Dreck gezogen werden musste, wurde deutlich, dass ein ursprünglich zum Antiterrorkampf geschaffenes Polizeiprogramm inzwischen Teil der Migrationskontrolle geworden ist.

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Channel crossings & UK

Etwa 3.000 Bootspassagen seit Jahresbeginn

Freiwillige geben Notrationen und Wasser an Bootspassagiere aus, die an der englischen Küste von Dungeness an Land gebracht wurden, März 2022. (Foto: Channel Rescue)

Hatten im Januar überraschend viele Migrant_innen den Ärmelkanal in unsicheren Booten passiert (siehe hier), so unterbrachen die heftigen Stürme im Februar den irregulären Verkehr nach Großbritannien für einige Wochen. Nach ihrem Abklingen zeigt sich nun, dass noch nie so viele Menschen diesen lebensgefährlichen Migrationspfad während des Winters passierten als in diesem Jahr. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die von Jahr zu Jahr stärkere Frequentierung der Kanalroute auch in diesem Jahr fortsetzen wird.