Die Überquerung des Ärmelkanals in kleinen Booten hat sich als bevorzugte Migrationsroute von der nordfranzösischen zur englischen Küste weiter etabliert: Seit Jahresbeginn haben bereits mehr Exilierte Großbritannien auf diese Weise erreicht als im gesamten Jahr 2020. Bis zum Ende des Jahres könnten ihre Zahl auf etwa 22.000 ansteigen. Erneut stehen die Channel crossings im Zentrum einer von konservativen Akteur_innen befeuerten innenpolitischen Debatte in Großbritannien, und immer neue Maßnahmen sollen die Kanalroute schließen. Über ein neues zwischenstaatliches Abkommen haben wir in unserem vorigen Beitrag bereits berichtet. Im neuralgischen Küstenabschnitt um Calais hat inzwischen eine nautische Einheit der CRS ihre Arbeit aufgenommen und der Verkauf von Kraftstoff für Boote wurde polizeilich verboten. Der französische Innenminister Gérald Darmanin brachte bei einem Calais-Besuch den Einsatz von Frontex ins Spiel und eine weitere britisch-französische Vereinbarung verstärkt das Grenzregime in sicherheitspolitischen Fragen. Gleichwohl zeichnet sich ein Scheitern des konservativen Projekts ab, die Migration über die Kanalroute durch eines der restriktivsten Asylgesetze Europas aufhalten zu wollen.
Schlagwort: Bootspassagen
Neue britisch-französische Vereinbarungen
Die Innenminister_innen Großbritanniens und Frankreichs, Priti Patel und Gérald Darmanin, unterzeichneten am 20. Juli 2021 virtuell eine gemeinsame Erklärung zur Bekämpfung der undokumentierten Migration nach Großbritannien. Das Papier beschreibt ein Bündel neuer Vereinbarungen und Absichtserklärungen. Sie betreffen vor allem die personelle, logistische und technologische Aufrüstung des Grenzschutzes in der nordfranzösischen Küstenregion, die von Großbritannien in den Jahren 2021/22 mit weiteren 62.7 Millionen Euro finanziert werden soll. Im Vergleich zu vorausgegangenen Vereinbarungen fällt auf, dass der Überwachungsraum wesentlich weiter gefaßt ist und nun die gesamte französische Nordküste betrifft. Die Bekämpfung der Migration über die Kanalroute wird mit der stärkeren Überwachung der französischen Grenzen zu Italien und Spanien verknüpft und soll künftig durch eine engere Zusammenarbeit mit Belgien, den Niederlanden und möglicherweise auch Deutschland flankiert werden. Nicht zuletzt forcieren Patel und Darmanin die Implementierung neuer und vernetzter Überwachungstechnologien und skizzieren die Idee einer Smart border, die Migrationsversuche automatisch erkennen soll. Calais und die nordfranzösische Küste wären hierfür das Reallabor. Was genau steht in dem Papier?
Nach wie vor passieren sehr viel mehr Exilierte den Ärmelkanal per Boot als im Vorjahr. Inzwischen dürfte ihre Zahl über 5.000 seit Jahresbeginn liegen. Während The Sunday Times meldete, dass diese Marke am 14. Juni überschritten worden sei, dürfte sie nach Berechnungen der BBC am Wochende des 19./20. Juni erreicht worden sein. Dies entspricht knapp dem Dreifachen des Vorjahreszeitraums (siehe hier). Im vergangenen Jahr war die Zahl 5.000 erst während der besonders stark frequentierten Hochsommermonate überschritten worden. Aus den Angaben der BBC und den tagesaktuellen Meldungen ihres Reporters Simon Jones ergibt sich außerdem, dass es zwischen dem 1. und 18. Juni mindestens 1.522 Channel migrants nach Großbritannien geschafft haben. Bis zum Monatsende werden es wahrscheinlich so viele sein wie im September 2021, dem Monat mit den meisten erfolgreichen crossings bisher.
Am 6. Juni 2021 hat sich die britische Innenministerin Priti Patel in einem Brief an diverse Social-Media-Konzerne gewandt und darauf gedrängt, dass diese größere Anstrengungen unternehmen, um Posts zu löschen, in denen die Channel Crossings „beworben oder gar verherrlicht“ würden. Diese seien „völlig inakzeptabel“. Darüber berichten unter anderem der Independant (€), Infomigrants, DailyMail, Heise, Metro und TalkRadio.
Anlass des Briefes ist ein kurzes, mit Musik unterlegtes Tiktok-Video mit dem Titel „Calais to Dover“, das sich viral verbreitet hatte. Es zeigt ein gutes Dutzend Exilierte bei der Querung des Kanals in einem Schlauchboot. Einige von ihnen tragen Rettungswesten, einer von ihnen zeigt das Victory-Zeichen. Die See ist vergleichsweise ruhig, durch den Sonnenaufgang vermittelt das Video eine freudige Atmosphäre. Dennoch ist die Überfüllung des Bootes klar zu erkennen. Das inzwischen bei TikTok gelöschte Video ist beschriftet mit „#unsuccessful.challenge#😭😭😭“.
Artin Iran Nezhad
Am 27. Oktober 2020 starben sieben Geflüchtete bei der Havarie ihres Bootes im Ärmelkanal. Unter ihnen war eine fünfköpfige Familie mit ihren drei Kindern im Alter von 15 Monaten, drei Jahren und acht Jahren. Nicht alle Opfer wurden damals gefunden, sodass zunächst nur vier Todesfälle gemeldet worden waren (siehe hier und hier). Nun ist der Leichnam des jüngsten Kindes, Artin, in Norwegen identifiziert worden. Der Junge war durch Meeresströmungen dorthin getrieben worden.
Ende Mai und Anfang Juni 2021 haben in nur fünf Tagen 700 Migrant_innen den Ärmelkanal durchquert. Berichten der BBC zufolge waren es 336 Menschen in 19 Booten am 28. Mai – die höchste Anzahl an einem Tag seit Jahresbeginn –, 144 in sieben Booten am 29. Mai, 17 in einem Boot am 30. Mai, 71 in drei Booten am 31. Mai und 132 in sechs Booten am 1. Juni. Günstige Witterungsbedingungen scheinen die Passagen in diesem Zeitraum erleichtert zu haben. In Kürze dürfte die Zahl derjenigen, die seit Jahresbeginn per Boot übergesetzt sind, 4.000 übersteigen.
Die Bootspassagen, ihre Verlagerung nach Dunkerque und ein improvisiertes Kanu in Calais
Mehr als 3.000 Geflüchtete haben Großbritannien seit Jahresbeginn in kleinen Booten erreicht, etwa ein Drittel von ihnen trotz phasenweise ungünstiger Witterung im Laufe des Mai. Dies sind etwa doppelt so viele Personen wie im Vorjahreszeitraum, als die gleiche Anzahl erfolgreicher Passagen erst in der zweiten Julihälfte registriert wurde. Infolge der stärkeren Kontrolle der französischen Küste bei Calais rückt nun der Küstenabschnitt zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze stärker in den Fokus. Doch auch von Calais legen weiter Boote ab. Ende Mai wurde dort sogar ein Boot entdeckt, das aus Stöcken und Zellophan zusammengesetzt worden war.
Über das Scheitern der Operation Sillath und die Verhältnisse in einer britischen Abschiebehaftanstalt
„Die Umstände in Brook House im Zusammenhang mit dem Charterflugprogramm bedeuteten, dass es kein sicherer Ort für schutzbedürftige Männer war, die den Kanal in kleinen Booten überquert hatten. Dies zeigte sich in einem hohen Maß an Selbstverletzungen und Suizidgedanken.“ Mit dieser Feststellung umriss das Independent Monitoring Board, ein unabhängiges Kontrollgremium, am 21. Mai 2021 die Zustände im Abschiebehaftzentrum Brook House im Flughafen Gatwick von Juli bis Dezember 2020. Während dieser Zeit wurde die Einrichtung für die Inhaftierung von Geflüchteten genutzt, die den Ärmelkanal in kleinen Booten überquert hatten und ungewollt in den Fokus einer aufgeheizten populistischen Debatte geraten waren. Unter der Bezeichnung Operation Sillath reagierte die Regierung Johnson mit einer konzertierten Aktion, um möglichst viele Channel crossers in EU-Staaten – darunter die Bundesrepublik Deutschland – abzuschieben, bevor Großbritannien mit dem Brexit zur Jahreswende 2020/21 auch den Geltungsbereich der Dublin-Verordnung verließ und damit aus den Regularien für innereuropäische Abschiebungen ausschied (siehe hier, hier, hier und hier).
Im Februar dokumentierten wir hier den offenen Brief einer Frau über den Verlust ihres neu geborenen Kindes Aleksandra. Sie klagt darin das Verhalten der französischen Polizisten an, die nach einer misslungenen Bootspassage keinerlei Hilfe leisteten, als die Geburt einsetzte. Später, bei der Geburt, kam es zu Komplikationen und Aleksandra starb nach wenigen Tagen. Die Familie hat inzwischen Anzeige gegen die beteiligten Beamten erstattet. In einer gemeinsamen Erklärung, die wir nachstehend in deutscher Übersetzung veröffentlichen, solidarisieren sich nun zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen mit der Familie. Die Erklärung ist auch in Französisch, Englisch und Sorani verfügbar.
Agenda der Verschärfung
Interview mit Refugee Rights Europe über das Abdriften der britischen Migrationspolitik
English version below
Im vergangenen Jahr wurden die Bootspassagen zu einem zentralen Thema der britischen Politik. Zugleich waren sie Anlass immer neuer Vorstöße der britischen Regierung: Unterbringung von Neuankömmlingen in früheren Militärkasernen (siehe hier), groteske Ideen von Pushbacks auf See und schwimmenden Barrieren (siehe hier), forcierte Abschiebungen (siehe hier) und neue bilaterale Vereinbarungen mit Frankreich (siehe hier). Im März 2021 veröffentlichte Innenministerin Priti Patel dann den „New Plan for Immigration“, der einen Teil dieser Vorschläge aufnimmt und auf eines der restriktivsten Asylsysteme in Westeuropa abzielt (siehe hier). Wir baten die Londoner Menschenrechtsorganisation Refugee Rights Europe um eine Einschätzung der Lage. Und was ist zu erwarten?