In der Nähe des Jungle von Loon-Plage wurde in der Nacht zum 4. Februar 2024 ein Mensch erschossen. Französische Medien berichten übereinstimmend, dass der Mann am Rand der Küstenautobahn A 16 auf dem Gemeindegebiet von Grande-Synthe entdeckt worden sei. Er sei durch eine Schusswunde im Brustbereich schwer verletzt gewesen, habe aber noch gelebt. Kurz darauf sei er auf dem Transport ins Krankenhaus, nach anderen Berichten im Krankenhaus, gestorben. Über seine Identität und die Hintergründe der Tat ist bislang nichts bekannt.
Schlagwort: Grande-Synthe
Wenn Schlauchboote von der nordfranzösischen Küste ablegen, ist dies für die französische Polizei und Gendarmerie die letzte Gelegenheit, um eine Bootspassage abzubrechen. Hierbei kam es in der Vergangenheit wiederholt zu Gewalt, die, weil sie meist bei Nacht an menschenleeren Strandabschnitten ausgeübt wird, selten dokumentiert wird (siehe hier, hier und hier). Über einen aktuellen Fall, bei dem Polizist_innen ein Boot mit CS-Gas beschossen, berichtet nun Utopia 56.
Human Rights Observers dokumentieren einen Höchstwert von über 1.700 Räumungen im Jahr 2022
Im Jahr 2022 stieg die Zahl der Räumungen informeller Lebensorte von Geflüchteten auf einen Höchstwert. Es waren über 1.700 Fälle, davon 96,5 % in Calais und die übrigen in der Umgebung von Dunkerque. Auch die Zahl der beschlagnahmten oder zerstörten Subsistenzgüter und persönlichen Sachen bleibt hoch. Die französische Grenzregion erweist sich damit einmal mehr ein Raum, in dem rechtstaatliche Normen im Vollzug einer restriktiven grenzpolitischen Agenda gebeugt werden. Dies verdeutlicht auch ein Vergleich der nordfranzösischen Grenzregion mit dem übrigen Frankreich.
Am 27. Oktober 2020 ereignete sich die bis dahin schlimmste Havarie auf der Kanalroute. Damals ertranken im Seegebiet vor Loon-Plage bei Dunkerque sieben Menschen, unter ihnen eine fünfköpfige Familie mit ihren drei Kindern; der Leichnam des jüngsten Kindes, das 15 Monate alt war, wurde erst Monate später an der norwegischen Küste angespült (siehe hier, hier und hier). Am 20. Januar 2023 fand in Dunkerque nun der Strafprozess gegen drei Schleuser und einen Geflüchteten statt, der das Boot gesteuert haben soll. Das Gericht sprach Haftstrafen zwischen zwei und neun Jahren aus.
55 Migrant*innen geraten auf dem Ärmelkanal in Seenot. Das Wasser beginnt in das Boot einzudringen und die betroffenen Personen schicken ihren Aufenthaltsort an ein Team von Utopia56, welches von Land aus versucht Hilfe zu koordinieren. Solche Anrufe gehören nicht nur zur Realität von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich in der Region um Calais engagieren, sondern werden mit den steigenden Überfahrten zunehmend alltäglich. Dabei kompensiert die elementare Arbeit dieser NGOs oft für staatliche Passivität und Gleichgültigkeit.
Die Organisation L’Auberge des Migrants hat eine Erklärung zur Stichwahl zur französischen Präsidentschaft veröffentlich. Wir dokumentieren sie in eigener Übersetzung.
Wir wenden uns aus Calais an Euch, einem toten Winkel Frankreichs, einer Enklave und einem Experimentierfeld für autoritäre Macht, das einen Vorgeschmack darauf gibt, wie das Land aussehen könnte, sollte Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt werden.
Im politischen Kontext der Präsidentschaftswahlen in Frankreich, verfasste die Organisation Utopia56 am 6. April 2022 einen Gegenentwurf zur französischen Migrations- und Grenzpolitik. Die zehn Punkte Agenda mit Vorschlägen für ein humaneres französisches Aufnahmesystem, beruht auf Erfahrungen, die Utopia56 u.a. in Calais und Grande-Synthe machen konnte und ist im umfassenden Austausch mit Freiwilligen und Mitgliedern der Organisation entstanden. Im Folgenden dokumentieren wir die Erklärung in eigener Übersetzung: (https://utopia56.org/nos-10-propositions-pour-un-accueil-digne-solidaire-et-inconditionnel/)
Zwei Kreise der Hölle
Siedlungen Exilierter bei Calais und Grande-Synthe
In diesem Beitrag werden wir zwei Jungles vergleichend beschreiben, einen in der Nähe von Calais und einen in der Nähe von Grande-Synthe – eine geographische Zuordnung, die ihre Lage in den kommunalen Verwaltungsgebieten nur grob beschreibt.
Grundlage dieses Vergleiches sind Beobachtungen vor Ort, die wir am 15. März am Siedlungsplatz Old Lidl und am 16. März in der Siedlung in Loon-Plage / Dunkerque gemacht haben, sowie Hintergrundgespräche mit Exilierten und verschiedenen Vertreter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Außerdem eine beobachtete Räumung am 16. März in der Nähe des Calaiser Krankenhauses, ergänzt durch Ergebnisse aus früheren Recherchen, Gesprächen und Aufenthalten vor Ort.
Old Lidl zwischen Calais und Marck
Der Siedlungsplatz „Old Lidl“ – von den Behörden Turquerie genannt – befindet sich auf dem Gebiet der Gemeinde Marck, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Calais. Er liegt zwischen einem Schienenstrang im Norden, sowie diverser LKW-Infrastruktur im Süden und Osten, welche über die Avenue Henri Ravisse an die A16 angebunden ist. Aus Marck ist das Gelände zugänglich von der Avenue Henri Ravisse, aus Calais von einer Kurve, in der die Rue de Normandie in die Rue du Beau Marais übergeht. Dieser Zugang ist durch die Behörden mit einem Erdwall und Findlingen für Kraftfahrzeuge versperrt worden, um die Ausgabe von Essen und Hilfsgütern zu blockieren.
Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.
Eines der wenigen konkreten Ergebnisse des europäischen Ministertreffens nach der verheerenden Havarie vom 24. November war die Entsendung eines militärischen Aufklärungsflugzeugs der europäische Grenzschutzagentur Frontex nach Lille mit dem Auftrag, die Küste vor der Calaiser Region zu überwachen. Ob die ersten Einsätze Symbolpolitik waren, aufgrund der kurzfristigen Verlegung ohne ausreichende Kenntnis des modus operandi der Bootspassagen erfolgten oder der Vorbereitung späterer Einsätze dienten, bleibt spekulativ.