Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Kanalroute im Herbst weniger stark frequentiert würde – auch und gerade wegen der größeren Risiken während dieser Jahreszeit. Stattdessen erreichten am 11. Novmber 2021 zum ersten Mal mehr als tausend Channel migrants an einem einzigen Tag die englische Küste: 1.185 Personen in 33 Booten. Erst am 4. November war mit 853 Personen in 25 Booten überraschend ein Tagesmaximum gemeldet worden. Nach den Todes- und Vermisstenfällen der vergangenen Wochen werden erneut drei Menschen nach einer Havarie vermisst. Die Passage des Kanals ist deutlich gefährlicher geworden.
Schlagwort: Todesfälle
[Update, 5. November, abends] Sowohl auf See, als auch auf dem Festland haben sich innerhalb von nur zwei Tagen mehrere Todesfälle ereignet. Mindestens drei Exilierte verloren bei verschiedenen Havarien und Unfällen das Leben, eine weitere Person ist vermisst und eine andere lebensgefährlich verletzt. Seit August sind im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration mindestens sechs Menschen gestorben. Zählt man die vermutlich ertrunkenen Vermissten hinzu, deren exakte Zahl nicht bekannt ist, könnten es bis zu elf Todesopfer gegeben haben – fast alle innerhalb der vergangenen sechs Wochen. Währenddessen bargen französische Rettungsdienste so viele Exilierte aus Seenot wie selten zuvor, und noch nie erreichten so viele Channel migrants die englische Küste an einem einzigen Tag. Hier ein Überblick über die bislang bekannten Fakten.
Vor der Küste von Harwich in der englischen Grafschaft Essex geriet am 25. Oktober ein Boot mit Migrant_innen in Seenot. Wie BBC berichtete, konnten zwei somalische Passagiere gerettet werden. Bis zu drei weitere Menschen gelten aus vermisst. Die Suche nach ihnen wurde inzwischen eingestellt.
Ein weiterer Todesfall in Transmarck
Zum zweiten Mal innerhalb von vier Wochen ist im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais ein Geflüchteter durch einen Lastwagen ums Leben gekommen. Der Lokalzeitung La Voix du Nord zufolge starb der Mann am 21. Oktober im Krankenhaus von Calais. Am frühen Morgen desselben Tages war er nach Angaben der Staatsanwaltschaft schwer verletzt in der Nähe des Cash & Carry-Geschäfts Pidou gefunden worden. Der am Boden liegende Mann sei von der Feuerwehr der Gemeinde Marck versorgt und ins Krankenhaus gebracht worden. Zur Ermittlung der Todesursache werde noch eine Autopsie durchgeführt. Nach Angaben der zivilgesellschaftlichen Organisationen Salam und Auberge des migrants wurde der von einem Lastwagen angefahren – ähnlich wie der Jugendliche Nasser Yasser Abdallah am 28. September auf der nahe gelegenen Avenue Henri-Ravisse (siehe hier). Der jetzige Fall ist der 305. dokumentierte Todesfall im Kontext des britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregimes.
Immunität bei Todesfällen?
Mit Blick auf Pushbacks im Ärmelkanal wies der der Guardian am 13. Oktober 2021 auf eine wenig beachtete Regelung im Entwurf eines neuen britischen Nationaltiäts- und Grenzgesetzes (Nationality and Borders Bill) hin. „A relevant officer is not liable in any criminal or civil proceedings for anything done in the purported performance of functions under this part of this schedule if the court is satisfied that (a) the act was done in good faith, and (b) there were reasonable grounds for doing it,“ lautet die an einer „obskuren Stelle“ (schedule 4A, part A1, paragraph J1) des Gesetzesentwurfs versteckte Passage. Unter Berufung auf „Kreise des Innenministeriums“ berichtet die Zeitung, die Regelung beziehe sich auf Pläne für Pushbacks im Ärmelkanal und solle die Beamt_innen der Border Force vor Strafverfolgung schützen. Insbesondere sollten diese strafrechrechtlich nicht verfolgt werden, „wenn ein Migrant in Gefahr ist oder ertrinkt.“ Mit anderen Worten geht es also um Immunität bei möglichen Todesfällen. Ob eine solche Regelung gegenüber anderen see- und strafrechtlichen Normen jedoch tatsächlich Bestand haben würde, ist nach Ansicht der Zeitung keineswegs sicher.
Protest der Exilierten in Calais
Nach dem Tod des jungen Sudanesen Yasser bei einer versuchten Grenzpassage per Lastagen am 28. September 2021 (siehe hier) rufen Exilierte gemeinsam mit solidarischen Akteur_innen für den heutigen 8. Oktober zu einer Demonstration in der Calaiser Innenstadt auf. Ihr Aufruf lautet: „We were patient with the suffering and tragedies that we live until we ran out of patience, so have decided to have a demonstration. We will protest against injustice and the absence of mediatisation of our situation and wish to defend our rights, our lost rights, and the right of the pure soul that was killed without guilt in the past days.“ Außerdem veröffentlichten Geflüchtete in Calais eine Erklärung, in der sie ihre Situation darlegen und auf die Gewalt eingehen, die ihnen durch Polizei und Lkw-Fahrer widerfährt. Wir dokumentieren die Erklärung im Folgenden:
[Updated, 2./12. Oktober 2021] Am frühen Morgen des 28. September 2021 wurde in Marck bei Calais die Leiche eines jungen Mannes aus dem Sudan gefunden. Offenbar wurde er von einem Lastwagen verletzt, als er versuchte, versteckt nach Großbritannien zu gelangen.
[Mit einem Update zum Prozessausgang] Am 30. September und 1. Oktober 2021 wird der ‚Mawda-Prozess‘ vor dem Berufungsgericht im belgischen Mons fortgesetzt. Ein Teil dieses Falles wird neu verhandelt, nachdem der Polizeibeamte, der das Kind während eines Polizeieinsatzes getötet hatte, gegen seine Verurteilung zu einem Jahr Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 400 Euro Berufung eingelegt hat.
Am 5. September 2021 war es ein Jahr her, dass Aleksandra Hazhar wenige Tage nach der Geburt starb. Ihr Tod steht sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Verhalten einer Gendarmeriepatrouille, die der Mutter jede medizinische Hilfe verweigerte, obwohl die Geburt eingesetzt hatte (siehe hier und hier). Während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu dem Fall noch andauern, ist der Jahrestag des Todes Anlass mehrerer öffentlicher Interventionen, die die tödlichen Konsequenzen der Grenzpolitik in den Blick rücken sollen.
Nach der Havarie, durch die am 12. August ein Bootspassagier starb (siehe hier), wurden nun einige Details über das Unglück und über den Umgang mit den Geretteten bekannt: Bei dem Opfer handelte es sich um einen 27jährigen Mann aus Eritrea. Bestätigt haben sich die am Tag des Unglücks veröffentlichten Meldungen über den Ablauf der Rettungsaktion. Allerdings veröffentlichte die Organisation Utopia 56 Schilderungen über den Umgang mit den Geretteten, die der behördlichen Darstellung widersprechen, man habe sich um die Menschen gekümmert.