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Channel crossings & UK

Meilenstein oder marginal?

Ein Blick auf die britischen Sanktionen gegen vermeintliche Menschenschmuggler und ihren Effekt

Die Labour-Regierung sieht die Sanktionsliste gegen Schleuser-Netzwerke als bahnbrechenden Schritt ihres eigenen ‚Stop the boats‘- Konzepts. Außerhalb sind die Zweifel dagegen groß – nicht zuletzt angesichts eines Anti-Migrations-Diskurses, in dem sie mit dem Rücken zur Wand steht. Die Liste selbst bietet dagegen überaus interessante Einblicke.

„Ein Meilenstein in den Bemühungen der Regierung, Organisierte Einwanderungs-Kriminalität zu bekämpfen und irreguläre Migration ins Vereinigte Königreich zu reduzieren“ – so kommentierte David Lammy, der britische Außenminister, diese Woche einen auffälligen Beschluss der Labour-Regierung. Erstmals verabschiedete diese eine Liste von 25 Akteuren, denen wegen vermeintlicher Beteiligung am Menschenschmuggel über den Ärmelkanal finanzielle Sanktionen auferlegt werden.

Konkret geht es um das Einfrieren etwaiger Vermögenswerte. Betroffen davon sind 20 Personen, vier als „Gangs“ bezeichnete Organisationen sowie ein in China ansässiges Unternehmen, das laut eigenem Namen „Outdoor Products“ herstellt. Rechtliche Grundlage ist die Border Security, Asylum and Immigration Bill, auf deren Basis auch Einreiseverbote verhängt und der Zugang zum britischen Finanzsystem gesperrt werden können. Britische Unternehmen dürfen keine finanziellen Verbindungen zu den aufgelisteten Akteuren unterhalten.

Damit unternimmt die Starmer-Regierung einen weiteren Schritt bei der Bekämpfung der klandestinen Migration über den Ärmelkanal. Diesem Ziel hatte sie sich bei ihrem Amtsantritt vor einem Jahr verschrieben. Allerdings setzt sie dabei auf einen gänzlich anderen Weg als ihre konservative Vorgängerin: Statt des berüchtigten Ruanda-Deals legt sie den Fokus auf das Vorgehen gegen Menschenschmuggel und Schleuser-Gangs- die Labour-Version der Forderung ‚Stop the boats‘, die in Großbritannien quer durch das politische Spektrum Konsens ist.

Wie effektiv eingefrorene Vermögen gegen Personen und Organisationen sind, die laut den auf der Sanktionsliste aufgeführten Begründungen an anderen, ausländischen Standorten agieren, ist grundsätzlich fraglich. Zudem lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin noch nichts über Folgen und Auswirkungen der Sanktionen sagen. Unabhängig davon vermitteln die aufgelisteten Personen und Netzwerke einen aufschlussreichen und selten detaillierten Überblick über Akteure und Netzwerke des Schleuser-Sektors. Sie skizzieren damit einen klandestinen Wirtschaftszweig, für den das stets repressivere Grenzregime gleichzeitig ständige Herausforderung und grundlegende Bedingung ist.

Unter den 20 individuell aufgeführten Personen, teils mit Geburtsdatum und -ort vermeldet, befinden sich allein zehn mit irakischer Nationalität. Dies entspricht der über die Jahre stabilen, tragenden Rolle, die kurdisch-irakische Netzwerke am Ärmelkanal spielen, die sich auch uns bei zahlreichen Recherchen vor Ort immer wieder bestätigt hat. Von den übrigen sanktionierten Personen stammen drei aus Serbien, zwei aus Marokko und je eine aus Montenegro, Bosnien- Herzegowina, Albanien und Kroatien.

In einem Fall ist keine Nationalität vermerkt, doch handelt es sich um „den Boss eines großen Schleuser-Netzwerks in Nordwest-Serbien“. Der betreffende Mann, Alen Basil, bzw. Alen Basil Dayoub, wurde bereits vor drei Jahren durch eine BalkanInsight-Recherche einem internationalen Publikum bekannt. Bevor er als Schleuser in Erscheinung trat, war er als Übersetzer für Geflüchtete tätig, der aus Serbien stammt, einen syrischen Vater und beide Nationalitäten hat.

Allen wird vorgeworfen, sich an Menschenschmuggel bereichert zu haben. Betroffen ist auch der Boss der nach ihm benannten „Kazawi gang“, die als „hoch professionelles, hierarchisches Netzwerk, das sich über mehrere Länder erstreckt“ beschrieben wird und einen „Mini-Staat“ in Europa errichtet habe. Ihre Dienste bieten sie demnach über Soziale Medien an und greifen zu Vergeltungsmaßnahmen gegen Kunden, die die Kosten nicht bezahlen können.

Auch ein Vertreter der „Kavač Gang“, deren Ursprung in Montenegro verortet wird, steht auf der Liste. Er soll dieser zu falschen Pässe verholfen und ihren Mitgliedern die Einreise in Balkan-Länder und die Türkei ermöglicht haben. Mehreren Betroffenen wird vorgeworfen, in Nordfrankreich tätigen Netzwerken aufblasbare Boote, Außenbordmotoren und nautisches Material organisiert zu haben, ebenso wie, in einem Fall, „Unterkünfte für Migrant:innen, bevor sie ins Vereinigte Königreich geschmuggelt wurden“.

Daneben geht es um das Unterhalten von Kontakten zu Hawala-Bankern, einen solchen Banker selbst oder Menschenschmuggel über den Ärmelkanal in Kühllastern. Auffällig ist, dass mehrfach Netzwerke mit sehr lokalem Fokus genannt werden. Der Albaner Bledar Lala wird als Zuständiger für die „Belgium operations“ beschrieben, also für das Schleusen von Belgien aus über den Ärmelkanal, Mohammed Tetouani als Boss der nach ihm benannten Gang, „eine der gewalttätigsten“. Tetouani soll ein inoffizielles Camp im serbischen Horgos kontrolliert haben. Der dortige Grenzübergang nach Ungarn war vor zehn Jahren einer der Schlüsselpunkte auf der sogenannten Balkan-Route, von dem aus damals schockierende Szenen um die Welt gingen.

Bei den vier separat aufgeführten Organisationen handelt es sich um die schon genannten Kavač-, Kazawi und Tetwani- Gangs sowie die Skaljari-Gang. Daneben findet sich auch die chinesische Weihan Yamar Outdoor Products Company auf der Liste. Vorgeworfen wird ihr, zumindest in der Vergangenheit „wirtschaftliche Resourcen, Güter oder Technologie“ zur Verfügung gestellt zu haben, die für den Menschenschmuggel eingesetzt werden könnten. Konkret soll sie Schlauchboote auf Online-Plattformen, die von Schmugglern frequentiert werden, zum Kauf angeboten haben. Das Unternehmen wird mit Adresse in einem Industriegebiet in Weihan in der ostchinesischen Provinz Shandong aufgeführt.

Als „globales Vorgehen“ gegen Netzwerke und ihre Mittelsmänner, die ihre Tätigkeiten ermöglichen und sie ausrüsten, beschreibt die britische Regierung die Maßnahmen. In einer Veröffentlichung vom 23. Juli werden diese als „erstes Sanktions-Regime der Welt, das auf irreguläre Migration und Organisierte Einwanderungs- Kriminalität gerichtet ist“, bezeichnet. Zugleich handele es sich um „den jüngsten Schritt der Regierungs-Kampagne um die Grenzen Großbritanniens zu sichern und irreguläre Migration zu verringern“. Die Maßnahmen sollen „den Fluss von Geld und Materialien unterbrechen – darunter auch das Einfrieren von Eigentum, Bankkonten und anderen Vermögenswerten – und es organisierten Verbrecherbanden ermöglichen, diesen abscheulichen Handel zu betreiben“. Für das Außenministerium bedeute dies ein Musterbeispiel „innovativer Ansätze“, um das Vorhaben der Regierung umzusetzen.

Resortchef Lammy erklärte folglich, man nehme „den Kampf gegen Menschenschmuggler von Europa bis Asien“ auf und diese ins Visier. „Meine Botschaft an die Gangs, die ungerührt verletzliche Leben für Profit aufs Spiel setzen, ist diese: Wir wissen, wer ihr seid, und wir werden mit unseren Partnern rund um die Welt zusammenarbeiten um euch verantwortlich zu machen.“

Eine gänzlich andere Auffassung vertritt Madeleine Sumption, die Direktorin des Oxford University Migration Observatory. Gegenüber BBC Radio 4 sagte sie, sie wäre überrascht, wenn die Sanktionen das entscheidende Element wären um die Bootsüberfahrten zu beenden. „In diesem Geschäft sind so viele Leute involviert, dass es wahrscheinlich nur einen marginalen Effekt hat, wenn man individuelle Personen ins Visier nimmt.“ Ob der Ansatz Erfolg habe, hänge von der Kooperation mit anderen Ländern ab, in denen Schleuser operieren.

Die BBC bestätigte auch, mit einer der sanktionierten Personen für ihren Podcast Smuggler’s Trail gesprochen zu haben. Dabei habe er das britische Einwanderungssystem einen „großen Witz“ genannt. Mehrfach habe er sich selbst ins Vereinigte Königreich und wieder hinaus geschmuggelt. Mit small boats aus Nordfrankreich könne er in einer einzigen Nacht bis zu 100.000 Pfund verdienen.

Angesichts des anhaltenden Trends zu immer mehr Passagieren per Boot und Überfahrtspreisen um die 2.000 Euro klingt diese Zahl nur im ersten Moment abenteuerlich. Rechnerisch dagegen ist sie nur realistisch. Der betreffende Mann soll seit mehreren Jahren im Geschäft sein. Nach seiner eigenen Aussage würde sich an der Situation am Ärmelkanal nichts ändern, wenn er festgenommen würde, da andere Akteure seinen Platz einnehmen würden.

Auch diese Einschätzung ist angesichts zahlreicher Festnahmen und Verurteilungen wegen Menschenschmuggels in den letzten Jahren wahrscheinlich, zumal mit Ausnahme des Rückgangs der Überfahrten 2023 die Zahl der in über den Ärmelkanal angekommenen Migrant:innen stetig zugenommen hat. In der ersten Jahreshälfte 2025 waren es knapp 20.000 Personen – ein Rekordwert und eine Zunahme von 48 % im Vergleich zu 2024. Ende Juli liegt die Zahl bei über 24.000.

Der Trend der steigenden Zahlen ist im britischen Diskurs gleichbedeutend mit einer vermeintlich ebenfalls stetig zunehmenden Bedrohung. Rechte Medien und Politiker:innen haben die Starmer-Regierung bereits kurz nach ihrem Antreten angezählt und machen sie für die zugenommenen Überfahrten verantwortlich. Die Losung ‚Stop the boats‘ fasst in drei Worten einen rabiaten Anti-Migrations-Diskurs zusammen, der einer der wesentlichen Gründe für den Aufstieg von Reform UK an die Spitze der Umfragen.

Die United Kingdom Independece Party (UKIP) bittet derweil ganz oben auf ihrer Website um Unterstützung „unserer Stop-the-boats-Kampagne“ und ruft dazu auf die Migrationsabwehr in die eigenen Hände zu nehmen – als Teil eines sogenannten ‚Border Protection Teams‘, einer selbst erklärten Grenzpatrouille, welche „die Invasion beenden“ soll. In ein Online-Formular kann man neben persönlichen Daten auch „relevante Erfahrung“ und etwaige Vorstrafen eingeben. Letztere „schließen Sie nicht aus, das Team muss nur darüber Bescheid wissen“, teilt man Interessierten mit.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Einschätzung des konservativen Schatten-Innenministers Chris Philp zu sehen. „Ein paar Bankkonten in Bagdad sperren oder einem Schlauchboothändler in Damaskus ein Einreiseverbot auferlegen“ würde die Boote nicht davon abhalten den Kanal zu überqueren, sagte er der BBC. „Die Gangs haben keine Angst – weil Labour nicht einsperren, deportiere oder selbst so tun wird als ob sie die Grenze verstärken“, so Philp. Der einzige Weg die Anziehungskraft Großbritanniens zu beenden und Überfahrten zu verhindern sei es, vermeintlich illegale Immigrant:innen „sofort bei Ankunft“ abzuschieben.

Angesichts dieses Szenarios ist offensichtlich, dass die Labour-Regierung in einem Kontext agiert, in dem sie kaum gewinnen kann – und das, obwohl sie im Rahmen ihres Konzepts von ‚Stop the boats‘ alles andere als untätig ist. Davon zeugen die engere und regelmäßige internationale Kooperation im Rahmen der Calais-Gruppe, das jüngste Abkommen mit Frankreich, das Rückführungen über den Kanal vorsieht und der wenig später beschlossene britisch-deutsche Joint Action Plan on Irregular Migration.

Dass auch in diesem Rahmen Entwicklungen mit potentiell tödlichen Folgen für Migrant:innen stattfinden, zeigt sich an der aktuellen Diskussion um von der Polizei aufgeschlitzte Schlauchboote, die sich an der nordfranzösischen Kanalküste bereits im Wasser befanden. Bislang durften Überquerungen auf diese Art nur vor dem Ablegen verhindert werden. Der anglo-französische Gipfel Anfang Juli will diese Maßnahme legalisieren. Praktiziert wird sie offenbar schon.

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