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Calais

Im Raum der Extralegalität

Zu den von Utopia 56 öffentlich gemachten Misshandlungen

Auf dem Rücksitz des Polizeiwagens zusammenschlagen – Brandwunden mit dem Feuerzeug zufügen – einen Mann durch Urinieren wecken – einem anderen die Schuhe wegnehmen und ihn barfuß an der Autobahnauffahrt zurücklassen – Familienzelte mit CS-Gas einsprühen. – Der Migrationsforscher Michel Agier beschrieb den Jungle von Calais in seinem gleichnamigen Standardwerk [1] als einen Lebensort innerhalb der dort zur Falle gewordenen Grenze, der zugleich durch drei Dimensionen der Ausgrenzung konstituiert ist: die Exklusion der Menschen, die (faktische) Extraterritorialität des Raumes und Extralegalität des Status. Der Jungle als Hüttenstadt vieler tausend Bewohner_innen, der im Mittelpunkt der Analyse Agiers und seines Teams stand, besteht seit knapp fünf Jahren nicht mehr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mechanismen des Verdrängens der Exilierten in gleichsam rechtsfreie Zonen damit beendet wären. Die oben umrissenen Gewaltakte, die laut einer Mitteilung von Utopia 56 von Angehörigen der Sicherheitskräfte an Exilierten in Calais verübt wurden (siehe hier), sind nur denkbar in einem solchen Raum suspendierter (menschen)rechtlicher Normen, in dem die Handlungsmacht der Polizei gleichsam entgrenzt ist – sei es, dass ihnen ein solcher extralegaler Handlungsraum gewährt wird, sei es, dass sie ihn sich selbst aneignen. Inzwischen ist mehr über die Fälle, ihren Kontext und ihre möglichen Konsequenzen bekannt geworden.

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Calais

Utopia 56 über Polizeigewalt und Misshandlungen

Systemische Gewalt in Calais: Routinemäßige Räumung am Weltflüchtlingstag, 20. Juni 2021. (Foto: Human Rights Observers)

Am 21. Juni 2021 veröffentlichte die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56 eine Liste aktueller Misshandlungsfälle, von denen sie bei ihrer Arbeit mit Geflüchteten in Calais erfahren habe. Genannt werden sowohl Fälle erniedrigender Behandlung, als auch Akte unmittelbarer physischer Gewalt. Über vergleichbare Fälle war seit den 2000er-Jahren mehrfach und von verschiedenen Akteur_innen berichtet worden; dennoch stechen die Schilderungen aus dem hervor, was in den vergangenen Jahren in Calais ‚normal‘ war. Der auf Facebook eingestellte und im Folgenden in deutscher Übersetzung dokumentierte Text ist als politische Anklage gegen den Präfekten des Pas-de-Calais angelegt. Zu Recht weist Utopia auf den systemischen Charakter der Gewalt in Calais hin, der nicht zwingend solcher unmittelbarer Brutalität bedarf. Dennoch bleibt zu hoffen, dass zumindest einige der Gewaltakte gerichtlich aufgearbeitet werden.

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Channel crossings & UK

Über 5.000 Passagen seit Jahresbeginn

Nach wie vor passieren sehr viel mehr Exilierte den Ärmelkanal per Boot als im Vorjahr. Inzwischen dürfte ihre Zahl über 5.000 seit Jahresbeginn liegen. Während The Sunday Times meldete, dass diese Marke am 14. Juni überschritten worden sei, dürfte sie nach Berechnungen der BBC am Wochende des 19./20. Juni erreicht worden sein. Dies entspricht knapp dem Dreifachen des Vorjahreszeitraums (siehe hier). Im vergangenen Jahr war die Zahl 5.000 erst während der besonders stark frequentierten Hochsommermonate überschritten worden. Aus den Angaben der BBC und den tagesaktuellen Meldungen ihres Reporters Simon Jones ergibt sich außerdem, dass es zwischen dem 1. und 18. Juni mindestens 1.522 Channel migrants nach Großbritannien geschafft haben. Bis zum Monatsende werden es wahrscheinlich so viele sein wie im September 2021, dem Monat mit den meisten erfolgreichen crossings bisher.

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Calais

Weitere Räumung im Zentrum von Calais

[Update, 12. Juni:] Lokalen Medienberichten und Aktivist_innen zufolge kam es am Morgen des 11. Juni 2021 abermals zu einer größeren Räumung in Calais. Sie richtete sich gegen ein oder mehrere Camps, die sich unter Brücken an den innerstädtischen Quais in der Nähe des Rathauses und des Bahnhofs gebildet haben. 41 Personen wurden von Dutzenden Polizisten, darunter CRS, in Busse gedrängt, die sie in Unterkunftszentren (CAES) im Departement Pas-de-Calais brachten. Es handelte sich um eine sogenannte mise à l’abri-Operation, die von den Behörden formal als humanitäre Unterbringung legitimiert werden. Bereits im Januar hatte dort eine ähnliche Polizeioperation stattgefunden (siehe hier).

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Channel crossings & UK

Artin Iran Nezhad

Artin auf einem privaten Foto, das von der BBC veröffnetlicht wurde. (Quelle: BBC)

Am 27. Oktober 2020 starben sieben Geflüchtete bei der Havarie ihres Bootes im Ärmelkanal. Unter ihnen war eine fünfköpfige Familie mit ihren drei Kindern im Alter von 15 Monaten, drei Jahren und acht Jahren. Nicht alle Opfer wurden damals gefunden, sodass zunächst nur vier Todesfälle gemeldet worden waren (siehe hier und hier). Nun ist der Leichnam des jüngsten Kindes, Artin, in Norwegen identifiziert worden. Der Junge war durch Meeresströmungen dorthin getrieben worden.

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Calais

Serie massiver Räumungen: Calais

Die Räumung des Unicorn und andere Narrative der Gewalt

Projektile (CS-Gas, einzelne Gummigeschosse) nach einer Auseinandersetzung zwischen Exilierten und der Polizei am 2. Juni. (Foto: Human Rights Observers)

Parallel zur Räumungsserie in Grande-Synthe (siehe hier) wurde in Calais das Camp Unicorn im Stadtteil Virval geräumt, das sich zuletzt zum Lebensort für rund 600 Menschen entwickelt hatte. Die Räumung fand in einer Phase statt, in der eine in ihrem Ausmaß bislang beispiellose Beschlagnahme von Zelten die Lebensbedingungen weiter verschlechtert hat. Zeitlich überschnitt sie sich außerdem mit zwei Ereignissen, bei denen es zu Gewalt zwischen Exilierten sowie mit der Polizei kam. In der öffentlichen Wahrnehmung verschmolzen diese Situationen zu einer Gewalterzählung, die die Räumung – fälschlicherweise – als Reaktion auf Gewalt erscheinen ließ. Anders als die meisten anderen Räumungen stieß sie dadurch auch auf überregionale mediale und politische Aufmerksamkeit. Es gilt also, den Ereigniskomplex zu entwirren.

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Dunkerque & Grande-Synthe

Serie massiver Räumungen: Grande-Synthe

Räumung in Grande-Synthe. (Foto: Human Rights Observers)

Sowohl in Grande-Synthe als auch in Calais kam es im Mai und Anfang Juni zu massiven Räumungen. In ihrem Umfang, aber auch hinsichtlich der eingesetzten Gewaltmittel, gingen sie über die routinemäßigen Polizeioperationen hinaus. In diesem Beitrag geben wir anhand von Videomaterial der Human Rights Observers (HRO) zunächst einen Überblick über die vier Räumungen in Grande-Synthe zwischen dem 19. Mai bis 3. Juni 2021. Die Entwicklung in Calais werden wir im folgenden Beitrag behandeln.

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Channel crossings & UK

700 Bootspassagen in wenigen Tagen

Ende Mai und Anfang Juni 2021 haben in nur fünf Tagen 700 Migrant_innen den Ärmelkanal durchquert. Berichten der BBC zufolge waren es 336 Menschen in 19 Booten am 28. Mai – die höchste Anzahl an einem Tag seit Jahresbeginn –, 144 in sieben Booten am 29. Mai, 17 in einem Boot am 30. Mai, 71 in drei Booten am 31. Mai und 132 in sechs Booten am 1. Juni. Günstige Witterungsbedingungen scheinen die Passagen in diesem Zeitraum erleichtert zu haben. In Kürze dürfte die Zahl derjenigen, die seit Jahresbeginn per Boot übergesetzt sind, 4.000 übersteigen.

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Calais Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Drohnen und Zellophan

Die Bootspassagen, ihre Verlagerung nach Dunkerque und ein improvisiertes Kanu in Calais

Nordfrankreich, Belgien und der Ärmalkanal. Die Markierung zeigt Leffrinckoucke bei Dunkerque, wohin sich ein Teil der Bootspassagen verlagert hat und wo die französischen Behörden am 19. Mai ihr neues Equipment präsentierten. (Karte: Openstreetmap)

Mehr als 3.000 Geflüchtete haben Großbritannien seit Jahresbeginn in kleinen Booten erreicht, etwa ein Drittel von ihnen trotz phasenweise ungünstiger Witterung im Laufe des Mai. Dies sind etwa doppelt so viele Personen wie im Vorjahreszeitraum, als die gleiche Anzahl erfolgreicher Passagen erst in der zweiten Julihälfte registriert wurde. Infolge der stärkeren Kontrolle der französischen Küste bei Calais rückt nun der Küstenabschnitt zwischen Dunkerque und der belgischen Grenze stärker in den Fokus. Doch auch von Calais legen weiter Boote ab. Ende Mai wurde dort sogar ein Boot entdeckt, das aus Stöcken und Zellophan zusammengesetzt worden war.

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Channel crossings & UK

Erhöhte Suizidgefahr am Gatwick Airport

Über das Scheitern der Operation Sillath und die Verhältnisse in einer britischen Abschiebehaftanstalt

„Die Umstände in Brook House im Zusammenhang mit dem Charterflugprogramm bedeuteten, dass es kein sicherer Ort für schutzbedürftige Männer war, die den Kanal in kleinen Booten überquert hatten. Dies zeigte sich in einem hohen Maß an Selbstverletzungen und Suizidgedanken.“ Mit dieser Feststellung umriss das Independent Monitoring Board, ein unabhängiges Kontrollgremium, am 21. Mai 2021 die Zustände im Abschiebehaftzentrum Brook House im Flughafen Gatwick von Juli bis Dezember 2020. Während dieser Zeit wurde die Einrichtung für die Inhaftierung von Geflüchteten genutzt, die den Ärmelkanal in kleinen Booten überquert hatten und ungewollt in den Fokus einer aufgeheizten populistischen Debatte geraten waren. Unter der Bezeichnung Operation Sillath reagierte die Regierung Johnson mit einer konzertierten Aktion, um möglichst viele Channel crossers in EU-Staaten – darunter die Bundesrepublik Deutschland – abzuschieben, bevor Großbritannien mit dem Brexit zur Jahreswende 2020/21 auch den Geltungsbereich der Dublin-Verordnung verließ und damit aus den Regularien für innereuropäische Abschiebungen ausschied (siehe hier, hier, hier und hier).