Im vergangenen Jahr überquerten 45.670 Menschen den Ärmelkanal auf riskante Weise per Schlauchboot. [Update: Am 2. Januar wurde die Zahl konkretisiert auf 45.756 Personen.] Dies waren so viele wie noch nie, seitdem im Herbst 2018 zum ersten Mal einige hundert Geflüchtete per Boot übergesetzt und damit eine neue maritime Migrationsrote in Europa erschlossen hatten. Der abermalige Anstieg der Passagen fällt in eine Zeit, in der sich die nach rechts gerückte britische Regierung als Promotor einer neuen inernationalen Migrationspolitik inszeniert, die in ihrer Radikalität inzwischen ohne weiteres mit dem Italien Melonis oder dem Ungarn Orbans verglichen werden kann.
Kategorie: Channel crossings & UK
Der britische High Court hat in einer Entscheidung vom 19. Dezember 2022 den vorläufig gestoppten Plan der britischen Regierung für rechtmäßig erklärt, Menschen, die in Großbritannien Asyl beantragen, nach Ruanda zu verbringen, wo sie ein Asylverfahren nach ruandischem Recht durchlaufen können.
In seiner Presseerklärung erklärt das Gericht, die britische Regierung habe Beweise dafür vorgelegt, dass sie mit der ruandischen Regierung Vereinbarungen getroffen habe mit dem Ziel, dass über den Asylanspruch der nach Raunda verbrachten Personen zutreffend entschieden werde. Unter diesen Bedingungen sei die Verbringung von Asylsuchenden nach Ruanda vereinbar mit der Genfer Flüchtlingskonvention und anderen gesetzlichen Verpflichtungen der Regierung, einschließlich des Human Rights Act von 1998.
Eine Woche nach der tödlichen Havarie im Ärmelkanal (siehe hier und hier) veröffentlichen zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist_innen aus Frankreich, Großbritannien und Belgien ein gemeinsames Statement zur Lage der Geflüchteten auf der Kanalroute. Sie stellen den Tod der vier Menschen in den Kontext der hostile environment-Politik beiderseits des Ärmelkanals, wenden sich gegen die aktuellen Verschärfungen der Migrationspolitik und plädieren für Bewegungsfreiheit. Im Folgenden dokumentieren wir den auf der Website des Joint Council for the Welfare of Immigrants veröffentlichten Text:
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In den Nachtstunden des 14. Dezember 2022 havarierte im Ärmelkanal ein Schlauchboot. Vier Geflüchtete verloren ihr Leben (siehe hier). Nach der Havarie veröffentlichten sowohl zivilgesellschaftliche Organisationen, als auch die zuständige französische Seepräfektur, genauere Informationen über das nächtliche Geschehen auf See. Ein Abgleich dieser Daten wirft die Frage nach operativen bzw. institutionellen Defiziten insbesondere der französischen Leitstelle auf. Außerdem wurde bekannt, dass wiederholte Notrufe eines anderen Bootes in derselben Nacht ins Leere liefen.
Bei einer Havarie im Ärmelkanal sind in der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember vier Personen ums Leben gekommen. Nach Berichten der BBC entdeckten Fischer kurz nach 3 Uhr das sinkende Schlauchboot. 31 Menschen konnten von der Crew gerettet werden.
Kurz nach dem Jahrestag der schweren Havarie vom 24. November 2021 ordnete die französische Premierministerin Élisabeth Borne nun eine Verstärkung der Seenotrettung für Geflüchtete im Ärmelkanal an. In einem ersten Schritt sollen zwei zusätzliche Schiffe für Rettungseinsätze gechartet, in einem zweiten ein System zur Überwachung der See mit Hilfe von Drohnen installiert werden.
Ein Jahr nach der Havarie
Die Havarie vom 24. November 2021
Es ist der Nachmittag des 24. November 2021, als ein Fischer die regionale Einsatzzentrale für maritime Überwachung und Rettung (CROSS) Gris-Nez über 15 an der Wasseroberfläche treibende Leichen verständigte. Wie sich später herausstellt, starben in der Nacht vom 23. auf den 24. November 2021 27 Personen, 4 sind noch immer vermisst, nur 2 Personen überlebten. Die Havarie vom 24. November 2021 ist das tödlichste Unglück an der französisch-britischen Grenze seit 2019, als 39 vietnamesische Exilierte tot in einem Lastwagen gefunden wurden.
„Äh, wir sind gerade an, äh, Migranten vorbeigefahren, äh, na ja, an Leichen. Sie sind tot.“ + „Okay, Sir, also sind die Migranten in einem Boot? Sehen sie für Sie wie delta charlie delta [tot] aus.“ + „Nein nein nein. Sie sind im Wasser, sie sind im Wasser, aber, äh, sie sind tot“.
Le Figaro, übersetzt aus dem Französischen
Am Jahrestag der Havarie eines Schlauchbootes am 24. November 2021 richteten Hinterbliebene einen offenen Brief an den britischen Premierminister Rishi Sunak. Sie fordern Gerechtigkeit für die über 30 Opfer, von denen einige nicht einmal tot geborgen werden konnten. Die Familien von neunzehn der Opfer benennen die Verantwortung beider Staaten für das letztlich tödliche Ausbleiben eines Rettungseinsatzes und verlangen eine transparente Aufklärung des Geschehens. Nicht zuletzt fordern sie eine grundlegende Veränderung der Politik gegenüber den Bootsflüchtlingen, die Schaffung sicherer Routen und ein Ende der antimigrantischen Rhetorik der politischen Führung Großbritanniens. Wir dokumentieren den von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen mitunterzeichneten Brief in der von Care4Calais veröffentlichten Form:
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Nahe der britisch-französischen Seegrenze havarierte am 24. November 2021 ein Schlauchboot, das mit über dreißig Passagier_innen nahe Dunkerque in See gestochen war. Bis auf zwei Überlebende ertranken alle, und zwar trotz abgesetzter Notrufe. Es war die bislang schlimmste Katastrophe dieser Art im Ärmelkanal. Bald nach der Havarie berichteten die beiden Überlebenden, dass die alarmierten Leitstellen in Frankreich und Großbritannien aufeinander verwiesen hätten, statt einen Rettungeinsatz zu veranlassen (siehe hier). Die meisten Opfer starben in der dadurch verstrichenen Zeitspanne, bevor schließlich ein Fischer die im Wasser treibenden Leichen entdeckte. Das Versagen der zuständigen Dienste steht inzwischen außer Frage. Es ist Gegenstand juristischer Untersuchungen und journalistischer Recherchen (etwa in Le Monde) und es ist damit zu rechnen, dass im Umfeld des Jahrestags weitere Details publik werden – wir werden daher zu einem späteren Zeitpunkt auf diesen Punkt zurückkommen. Zunächst möchten wir anhand einiger Eckdaten skizzieren, wie sich die Bootspassagen seit der Katastrophe entwickelt und verändert haben.
Todesfall im Lager Manston
Ein Mann, der am 12. November 2022 per Boot auf der Kanalroute nach Großbritannien gelangt war, ist eine Woche später, am 19. November, gestorben. Er war im Manston processing centre in der Grafschaft Kent untergebracht. Laut BBC und Guardian klagte er am Vorabend über Beschwerden und wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo er am folgenden Morgen starb. Über die Identität des Mannes und die genauen Todesumstände ist bislang nichts bekannt. Die Einrichtung in Manston war in den vergangenen Monaten durch ihre starke Überbelegung, heftige Klagen von Bewohner_innen sowie den Ausbruch von Infektionskrankeiten in die Schlagzeilen geraten.
[Mit einem Update]