Zum wiederholten Mal ist ein Exilierter in Calais uns Leben gekommen. Über die Identität des Opfers und die genauen Umstände seines Todes ist bislang nichts bekannt. Fest steht, dass am 29. Mai 2022 ein Mann „vermutlich afrikanischer Herkunft“ (so die Staatsanwaltschaft Boulogne-sur-Mer) im südlichen Stadtgebiet von Calais von einem Güterzug erfasst und getötet wurde. Der Todesfall reiht sich in eine Serie ähnlicher Todesfälle ein, die sich seit dem vergangenen Herbst rund um die Camps im Südosten von Calais und das nahe gelegene Logistik-Gewerbegebiet Transmarck ereignet haben. Allein auf dem Bahngleis ist es der dritte Todesfall innerhalb eines halben Jahres.
In den vergangenen Tagen eskalierte im Umfeld der Camps bei Dunkerque ein mutmaßlicher Konflikt zwischen professionellen Schmugglern. Binnen weniger Tage wurden ein Mensch erschossen und mehrere weitere durch Schüsse teils schwer verletzt. Während der mittäglichen Essensverteilung war ein von Hunderten Menschen bewohntes Camp in Loon-Plage dem Feuer schwerer Waffen ausgesetzt. Freiwillige berichten von Schüssen, die in Salven abgegeben wurden. Dass sich vor allem in diesem Abschnitt der französischen Kanalküste mafiose Strukturen von Schmugglern herausgebildet haben, ist nicht neu, allerdings geht die jetzige Eskalation deutlich weiter. Die Behörden reagierten auf die Gewalt mit Ermittlungen wegen Mordes und Mordversuchs sowie der Räumung des betroffenen Camps. Wir fassen zusammen, was bislang bekannt ist.
Im Rahmen ihrer politischen und juristischen Intervention gegen die Politik der britischen Regierung, Geflüchteten der Kanalroute das reguläre Asylverfahren zu verweigern und sie stattdessen nach Ruanda abzuschieben, veröffentlichte Care4Calais am 24. Mai 2022 den Text eines sudanischen Geflüchteten namens Nadir. Dieser blickt auf die Durchquerung Libyens, des Mittelmeers und des Ärmelkanals zurück und beschreibt, wie er in Großbritannien inhaftiert und ihm mitgeteilt wurde, dass er nach Ruanda ausgeflogen werden soll. Medienberichten zufolge soll die Situation, die Nadir erlebt, für die zur Abschiebung nach Ruanda vorgesehenen Menschen zur Norm werden, allerdings scheinen die Behörden momentan nicht damit zu rechnen, dies in großem Umfang auch umsetzen zu können. Nadirs Text zeigt, was dies für die Betroffenen bedeutet. Wir dokumentieren seinen Text im englischen Original:
Im Gebiet von Calais und Dunkerque haben seit Jahresbeginn mehr als 600 Räumungen informeller Lebensorte von Exilierten stattgefunden. Während die Polizeioperationen in Calais weiterhin in großer Zahl und enger zeitliche Taktung durchgeführt werden, finden sie in Grande-Synthe und anderen Randbereichen von Dunkerque seltener, dafür aber sehr viel massiver statt. Die kontinuierliche Beobachtung durch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Observers (HRO) zeigt Kontinuitäten und Veränderungen dieser grenzpolitischen Praxis, vor allem aber dokumentieren sie den anhaltenden menschenrechtlichen Erosionsprozess an der französischen Kanalküste. Gleichzeitig versucht HRO, diese Zustände mit rechtlichen Mitteln anzugreifen.
Ein mutmaßlicher Suizid (2)
Über den jungen Mann, dessen Leichnam am 11. Mai erhängt in einem Lastwagenanhänger im Gerbegebiet Transmarck entdeckt wurde, ist inzwischen Näheres bekannt. Bewohner_innen des Old Lidl-Camps identifizierten ihn als Hassan, 27 Jahre alt, und anders als zunächst gemeldet, kam er nicht aus Eritrea, sondern dem Sudan. „Die Politik an den Grenzen tötet. […] Welche emotionalen Auswirkungen hat das auf die Exilierten?“, hatte eine am Ort tätige zivilgesellschaftliche Gruppe nach dem mutmaßlichen Suizid geschrieben (siehe hier). Eine Reportage des französischen Blogs InfoMigrants beantwortet dies nicht – wie auch? Aber sie skizziert die Situation einiger junger Männer, die mit Hassans Tod konfrontiert sind. Am Tag, als die Reportage erschien, wurde Hassans Camp einmal mehr geräumt.
Ein mutmaßlicher Suizid
Im Gewerbegebiet Transmarck bei Calais fanden Geflüchtete am gestrigen 11. Mai 2022 die Leiche eines jungen Mannes vermutlich aus Eritrea. Er befand sich erhängt in einem stillgelegten Lastwagenanhänger und es wird vermutet, dass er sich selbst das Leben genommen hat. Wenn dies tatsächlich so war: Was sagt dieser Tod über die Grenze?
Mai 2022
Wir verlinken hier eine Auswahl aktueller Meldungen aus den Medien und Beiträge von Exilierten und Aktivist_innen und mit Bezug zur Situation im kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum.
Abschiebung eines Aktivisten
Es ist nicht neu, dass freiwillige Helfer_innen und politische Aktivist_innen in Calais Schikanen erfahren. Gängig sind etwa Ordnungsgelder bei Verstößen gegen das Verbot, in bestimmten Gebieten der Stadt Lebensmittel und Hilfsgüter zu verteilen, Knöllchen wegen Falschparken und ausgiebiges Überprüfen von Fahrzeugpapieren. Hinzu kommen das rechtswidrige Abfotografieren von Personen und Papieren durch die Polizei, teils mit den privaten Smartphones, und andere Formen verbaler und physischer Machtdemonstration. Deutlich darüber hinaus geht die Inhaftierung des britischen Aktivisten Matthew R., der sich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Rechte der Exilierten in Calais einsetzt, zuletzt im Rahmen des Kollektivs Calais Logement Pour Toustes, das im Februar 2022 einen maroden Altbau besetzte und in einen solidarischen Lebensort für Exilierte umwandelte (siehe hier und hier). Matthew wird keine konkrete Straftat vorgeworfen, vielmehr wurde er wegen eines abgelaufenen Aufenthaltstitels inhaftiert, mit einem einjährigen Einreiseverbot nach Frankreich belegt und muss nun unter Hausarrest auf seine Abschiebung nach Großbritannien warten. Eine Erklärung, die er selbst hierzu abgab, dokumentieren wir am Ende dieses Beitrags.
Zwischen der Unterzeichnung der britisch-ruandischen Vereinbarung zur zwangsweisen Umsiedlung von Asylsuchenden am 13. April und der Verabschiedung des verschärften Einwanderungsgesetzes am 27. April (siehe hier und hier) sank die Zahl der Bootspassagen auf der Kanalroute von 651 Passagieren (13. April) auf Null zwischen dem 20. und 30. April. Dieser Rückgang war offensichtlich witterungsbedingt, doch kam er der britischen Regierung gelegen, suggerierte er doch eine unmittelbare abschreckende Wirkung der geplanen Ruanda-Abschiebungen. In der Tat lösten die Pläne der Regierung Ängste aus, doch bedeutet dies keineswegs, dass sie die Bootspassagen des Ärmelkanals stoppen werden. Die Zahl der Passagen liegt in den ersten vier Monaten dieses Jahres bislang um das Dreifache höher als im Vorjahreszeitraum und eine Umfrage unter Geflüchteten in Calais und Dunkerque ergab, das die Mehrzahl von ihnen trotz des Ruanda-Programms die Bootspassage versuchen wird. Auch das Programm selbst lässt sich nicht so schnell realisieren, wie es die Regierung angekündigt hatte. Die juristische Anfechtung zeigt Wirkung.
Dystopie in Gesetzesform
Das britische Unterhaus verabschiedete am Abend des 27. April den Nationality and Borders Act 2022. Der im vergangenen Jahr von Innenministerin Priti Patel eingebrachte Gesetzesentwurf zielt im Kern auf die Kriminalisierung der undokumentierten Einreise, die Etablierung eines Schnellverfahrens zum Ausschluss der betroffenen Menschen aus dem britischen Asylverfahren und die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für ihre Umsiedlung in einen Drittstaat. Das neue Gesetz kodifiziert damit eine migrationspolitische Agenda, die zu den restiktivsten Europas gehört und, sollte sie von anderen europäischen Staaten aufgegriffen werden, über Großbritannien hinaus eine Zäsur darstellen könnte. Zugleich bildet das neue Gesetz den Fixpunkt verschiedener umstrittener Maßnahmen der vergangenen Monate: von der versuchten Kriminalisierung von Geflüchteten, die ein Schlauchboot gesteuert haben sollen, über die Neuorganisation des Grenzschutzes unter militärischer Ägide bis hin zum Abschluss einer ersten Vereinbarung mit der ruandischen Regierung über die Umsiedlung von Migrant_innen, die u.a. aus einem EU-Staat eingereist sind. Unter den in Nordfrankreich ausharrenden Exilierten entfaltet die Drohung, in ein 6500 Kilometer entfernt Land gebracht zu werden, eine beklemmende Wirkung.