Zwischen der Unterzeichnung der britisch-ruandischen Vereinbarung zur zwangsweisen Umsiedlung von Asylsuchenden am 13. April und der Verabschiedung des verschärften Einwanderungsgesetzes am 27. April (siehe hier und hier) sank die Zahl der Bootspassagen auf der Kanalroute von 651 Passagieren (13. April) auf Null zwischen dem 20. und 30. April. Dieser Rückgang war offensichtlich witterungsbedingt, doch kam er der britischen Regierung gelegen, suggerierte er doch eine unmittelbare abschreckende Wirkung der geplanen Ruanda-Abschiebungen. In der Tat lösten die Pläne der Regierung Ängste aus, doch bedeutet dies keineswegs, dass sie die Bootspassagen des Ärmelkanals stoppen werden. Die Zahl der Passagen liegt in den ersten vier Monaten dieses Jahres bislang um das Dreifache höher als im Vorjahreszeitraum und eine Umfrage unter Geflüchteten in Calais und Dunkerque ergab, das die Mehrzahl von ihnen trotz des Ruanda-Programms die Bootspassage versuchen wird. Auch das Programm selbst lässt sich nicht so schnell realisieren, wie es die Regierung angekündigt hatte. Die juristische Anfechtung zeigt Wirkung.
Dystopie in Gesetzesform
Das britische Unterhaus verabschiedete am Abend des 27. April den Nationality and Borders Act 2022. Der im vergangenen Jahr von Innenministerin Priti Patel eingebrachte Gesetzesentwurf zielt im Kern auf die Kriminalisierung der undokumentierten Einreise, die Etablierung eines Schnellverfahrens zum Ausschluss der betroffenen Menschen aus dem britischen Asylverfahren und die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für ihre Umsiedlung in einen Drittstaat. Das neue Gesetz kodifiziert damit eine migrationspolitische Agenda, die zu den restiktivsten Europas gehört und, sollte sie von anderen europäischen Staaten aufgegriffen werden, über Großbritannien hinaus eine Zäsur darstellen könnte. Zugleich bildet das neue Gesetz den Fixpunkt verschiedener umstrittener Maßnahmen der vergangenen Monate: von der versuchten Kriminalisierung von Geflüchteten, die ein Schlauchboot gesteuert haben sollen, über die Neuorganisation des Grenzschutzes unter militärischer Ägide bis hin zum Abschluss einer ersten Vereinbarung mit der ruandischen Regierung über die Umsiedlung von Migrant_innen, die u.a. aus einem EU-Staat eingereist sind. Unter den in Nordfrankreich ausharrenden Exilierten entfaltet die Drohung, in ein 6500 Kilometer entfernt Land gebracht zu werden, eine beklemmende Wirkung.
Wie die Public and Commercial Services (PCS) Union, Care4Calais, Channel Rescue und Freedom from Torture am heutigen 25. April 2022 mitteilen, hat die britische Regierung ihr Vorhaben aufgegeben, die Boote von Geflüchteten im Ärmelkanal gewaltsam zurückzudrängen. Die vier Organisationen haben damit einen bedeutenden menschenrechtspolitischen Erfolg erzielt: Denn im Zuge ihrer gemeinsamen Klagen gegen die seit Spätsommer 2021 vorbereiteten Pushbacks war ans Licht gekommen, dass die Regierung frühzeitig darüber informiert war, dass sie diese Maßnahme aus rechtlichen Gründen nie gegen Asylbewerber_innen würde anwenden können. Dennoch hielt sie an ihrem Vorhaben fest und täuschte darüber hinaus gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit vor, im legalen Rahmen – wenn auch unter eng umrissenen Bedingungen – solche Pushbacks durchführen zu können. Eine Woche vor der Anhörung des Falls vor dem High Court teilte die Regierung nun mit, dass sie ihre bisherige Pushback-Politik aufgegeben hat.
Die Organisation L’Auberge des Migrants hat eine Erklärung zur Stichwahl zur französischen Präsidentschaft veröffentlich. Wir dokumentieren sie in eigener Übersetzung.
Wir wenden uns aus Calais an Euch, einem toten Winkel Frankreichs, einer Enklave und einem Experimentierfeld für autoritäre Macht, das einen Vorgeschmack darauf gibt, wie das Land aussehen könnte, sollte Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt werden.
This is what the new UK-Rwanda partnership is all about. Mit diesem Satz stellte die Innenministerin Priti Patel ein Video vor, mit dem sie angesichts massiver Kritik nationaler und internationaler Institutionen für die geplante Umsiedlung von Geflüchteten aus Großbritannien nach Ruanda (siehe hier) wirbt. Hier eine Filmkritik.
Fortschaffung nach Ruanda
Die britische Innenministerin Priti Patel und der ruandische Außenminister Vincent Biruta unterzeichneten am 13. April 2022 in Kigali ein Memorandum über eine künftige Asylpartnerschaft. Sollte diese realisiert werden, so könnte Großbritannien Migrant_innen, die ‚illegal‘ über den Ärmelkanal gelangt sind, nach einem Schnellverfahren nach Ruanda umsiedeln, wo sie dann ein Asylverfahren nach ruandischem Recht durchlaufen und bei einem povsitiven Ausgang in dem afrikanischen Staat verbleiben würden. Jemand, der beispielsweise aus Afghanistan, dem Sudan, Eritrea oder dem Iran über Dunkerque oder Calais nach Großbritannien gelangt ist, würde sich also in Ruanda wiederfinden und hätte – so die Vorstellung der Regierung Johnson – keine legale Möglichkeit mehr, es noch einmal in Großbritannien zu versuchen. Im Zentrum der Asylpartnerschaft steht also eine Zwangsumsiedlung der betroffenen Menschen in ein Land, aus dem sie nicht stammen, das sie auf ihrer Migrationsreise nicht passiert haben und in das sie nicht wollten. Sollte das Vorhaben Wirklichkeit werden, wäre dies nicht nur eine Zäsur in der Geschichte der Kanalroute, sondern ein gefährlicher Präzedenzfall in einem instabiler werdenden Europa. Zeitgleich mit dem britisch-ruandischen Memorandum übertrug Boris Johnson das operative Kommando über die UK Border Force im Ärmelkanal der Royal Navy und vollzog damit eine Militarisierung des Grenzregimes.
Projekt Terminus
Das verschobene Projekt der „Anti-Schleuser-Kameras“ zeigt die banalen Grenzen der Sekuritisierung
Wer den Ausbau der Infrastrukturen zur Bekämpfung der Bootspassagen über eine längere Zeit beobachtet, wird feststellen, dass sie nicht frei von Friktionen war. Zwar ist die Sekuritisierung der neuralgischen Küstenabschnitte um Dunkerque, Calais und Boulogne-sur-Mer nicht zu übersehen: Neue Fahrzeuge und neues Equipment der personell verstärkten Polizei- und Gendarmeriebehörden sind im Einsatz, nachts kreisen Drohnen über den Dünen und ein Frontex-Flugzeug überfliegt von Lille aus die Küstenlinie. Ein Checkpoint an der E 40, die von Deutschland über Belgien nach Dunkerque und Calais führt, soll knapp hinter der französische Grenze das Heranschaffen von Schlauchbooten verhindern. Und als sich im vergangenen Herbst ein Vigipirate-Fahrzeug bei einem pubertären Fahrmanöver auf dem Gelände des Camps Old Lidl im Morast festfuhr und mithilfe der Campbewohner_innen im Wortsinne aus dem Dreck gezogen werden musste, wurde deutlich, dass ein ursprünglich zum Antiterrorkampf geschaffenes Polizeiprogramm inzwischen Teil der Migrationskontrolle geworden ist.
Im politischen Kontext der Präsidentschaftswahlen in Frankreich, verfasste die Organisation Utopia56 am 6. April 2022 einen Gegenentwurf zur französischen Migrations- und Grenzpolitik. Die zehn Punkte Agenda mit Vorschlägen für ein humaneres französisches Aufnahmesystem, beruht auf Erfahrungen, die Utopia56 u.a. in Calais und Grande-Synthe machen konnte und ist im umfassenden Austausch mit Freiwilligen und Mitgliedern der Organisation entstanden. Im Folgenden dokumentieren wir die Erklärung in eigener Übersetzung: (https://utopia56.org/nos-10-propositions-pour-un-accueil-digne-solidaire-et-inconditionnel/)
Die Briefkästen der Camps
[Updated, 11. April 2022] Um die rechtliche Stellung der Exilierten in Calais zu verbessern und insbesondere den permanenten Räumungen entgegenzuwirken, hat Human Rights Observers Anfang April zu einer auf den ersten Blick skurrilen, tatsächlich aber wohldurchdachten Maßnahme gegriffen: Im Namen der Bewohner_innen statteten sie die wichtigsten inoffiziellen Lebensorte der Migrant_innen mit Briefkästen aus.
April 2022
Wir verlinken hier eine Auswahl aktueller Meldungen aus den Medien und Beiträge von Exilierten und Aktivist_innen und mit Bezug zur Situation im kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum.