Wir freuen uns, auf eine vertiefende Analyse des britisch-ruandischen Migrations-Deals hinweisen zu können: Der Beitrag unter dem Titel One-way-Ticket nach Afrika entstand als gemeinsames Projekt der Journalistin Sabine Schlindewein mit der Redaktion unseres Blogs und wurde auf dem Portal Migration Control veröffentlicht. Er beleuchtet den Versuch der britischen Regierung, Geflüchtete unabhängig von ihrer Nationalität und Herkunft nach Ruanda zu verbringen, aus einer doppelten Perspektive: der migrationspolitischen Entwicklung Großbritanniens und Ruandas. Aus dem Inhalt:
Schlagwort: Channel crossings
Einen Tag, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verbringung von Geflüchteten nach Ruanda in letzter Minute stoppte, gab die britische Regierung am 15. Juni 2022 eine neue Maßnahme bekannt: Den Start eines Modellversuchs zur elektronischen Markierung und Überwachung von Migrant_innen. Die Maßnahmen flankiert den britisch-ruandischen Asylpakt, an dem die Regierungt Johnson nach wie vor festhält. Sie richtet sich gegen Migrant_innen, die aus der EU in Schlauchbooten und versteckt auf Lastwagen nach Großbritannien eingereist sind. Zu den ersten Betroffenen gehören voraussichtlich diejenigen, deren Deportation nach Ruanda das Straßburger Gericht vorläufig verhindert hat.
Für den gestrigen 14. Juni 2022 hatte die britische Regierung den ersten Flug angesetzt, mit dem illegalisierte Geflüchtete im Rahmen des britisch-ruandischen Migrationsdeals deportiert werden sollten. Wäre es dazu gekommen, so wäre dies ein Novum in der europäischen Migrationspolitik gewesen. Doch obschon internationale Medien bereits gemeldet hatten, dass der Abschieflug plangemäß durchgeführt werde, fand er nicht statt. Entscheidend dafür war eine Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Klagen mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter Cafe4Calais, waren also erfolgreich, wenngleich dies nicht bedeutet, dass die britische Regierung nicht weitere Anläufe versuchen wird, um Channel migrants allein wegen ihrer Einreiseform aus dem britischen Asylsystem auszuschließen und unabhängig von ihrer Nationalität nach Ruanda zu deportieren. Ob sich der Ruanda-Deal also in die Reihe gescheiterter Verschärfungen der britischen Grenzpolitik einreihen wird, muss also vorerst offen bleiben. Wir dokumentieren im Folgenden eine Erklärung, die Care4Calais heute über den Stopp der Deportationen veröffentlicht hat:
Am 13. April 2022 wurde das „Memorandum of Understanding“ zwischen Ruanda und Großbritannien unterschrieben, welches es Großbritannien erlaubt, Migrant_innen die dort um Asyl ersuchen, ohne weitere Prüfung nach Ruanda zu bringen. Wie die britische Innenminister Pritil Patel am 31. Mai 2022 ankündigte, soll der erste Abschiebeflug mit Menschen, die „illegal“ in das Vereinigte Königreich eingereist sind, am 14. Juni 2022 erfolgen.
Zwischen der Unterzeichnung der britisch-ruandischen Vereinbarung zur zwangsweisen Umsiedlung von Asylsuchenden am 13. April und der Verabschiedung des verschärften Einwanderungsgesetzes am 27. April (siehe hier und hier) sank die Zahl der Bootspassagen auf der Kanalroute von 651 Passagieren (13. April) auf Null zwischen dem 20. und 30. April. Dieser Rückgang war offensichtlich witterungsbedingt, doch kam er der britischen Regierung gelegen, suggerierte er doch eine unmittelbare abschreckende Wirkung der geplanen Ruanda-Abschiebungen. In der Tat lösten die Pläne der Regierung Ängste aus, doch bedeutet dies keineswegs, dass sie die Bootspassagen des Ärmelkanals stoppen werden. Die Zahl der Passagen liegt in den ersten vier Monaten dieses Jahres bislang um das Dreifache höher als im Vorjahreszeitraum und eine Umfrage unter Geflüchteten in Calais und Dunkerque ergab, das die Mehrzahl von ihnen trotz des Ruanda-Programms die Bootspassage versuchen wird. Auch das Programm selbst lässt sich nicht so schnell realisieren, wie es die Regierung angekündigt hatte. Die juristische Anfechtung zeigt Wirkung.
Hatten im Januar überraschend viele Migrant_innen den Ärmelkanal in unsicheren Booten passiert (siehe hier), so unterbrachen die heftigen Stürme im Februar den irregulären Verkehr nach Großbritannien für einige Wochen. Nach ihrem Abklingen zeigt sich nun, dass noch nie so viele Menschen diesen lebensgefährlichen Migrationspfad während des Winters passierten als in diesem Jahr. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die von Jahr zu Jahr stärkere Frequentierung der Kanalroute auch in diesem Jahr fortsetzen wird.
Notrufe ins Leere
Neue Erkenntnisse zur tödlichen Havarie am 24. November 2021
Wir haben an dieser Stelle mehrfach über die Havarie berichtet, die am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen inmitten des Ärmelkanals das Leben kostete (siehe hier, hier, hier und hier). In den Wochen danach griffen wir Berichte der beiden Überlebenden auf, denen zufolge die Menschen auf dem havarierten Boot bereits frühzeitig Notrufe abgesetzt hatten, jedoch stundenlang keine Rettung erfolgte. Ihre Anklage, die von verschiedenen Indizien gestützt wurden, ging noch weiter: Die französischen und britischen Leitstellen hätten wechswelseitig behauptet, das Boot befände sich um Gebiet des jeweils andere Staat und dieser sei für die Rettung zuständig (siehe hier, hier und hier). Bis heute ist nicht genau bekannt, was in den Nacht- und Morgenstunden des 24. November geschah, doch bestätigen Recherchen von France Inter die Aussagen der Überlebenden nun in einem wesentlichen Punkt.
Zwei Tote in Marck
In den vergangenen Tagen starb nicht nur ein Lastwagenfahrer nach einem Konflikt mit Exilierten, wovon unser voriger Beitrag handelt. Am gleichen Tag wurde in der Gemeinde Marck bei Calais die Leiche eines Menschen angespült – vermutlich ein Geflüchteter, der im Ärmelkanal ertrunken ist. In der folgenden Nacht verunglückte ebenfalls in Marck ein Jugendlicher tödlich beim Versuch, sich in einem Lastwagen mit dem Fahrtziel Großbritannien zu verstecken.
[Updated, 19. Dezember 2021]
Drei Wochen nach der tödlichen Havarie ist mehr über die Identität der Opfer bekannt. Wie die Pariser Staatsanwaltschaft am 14. Dezember 2021 mitteilte, konnten 26 der 27 tot geborgenen Personen identifiziert werden. Kurz darauf konnte auch die Identität der letzten Person geklärt werden. Demnach waren 16 der Todesopfer Kurd_innen aus dem Irak, vier kamen aus Afghanistan, drei aus Äthiopien und je eine Person aus Somalia, Ägypten, Vietnam und dem kurdischen Teil des Iran. Die jüngsten Opfer waren ein 7jähriges Mädchen und 16jähriger Junge, beide aus dem kurdischen Teil des Irak, die beiden ältesten ein 46jähriger Mann aus Äthiopien und eine gleichaltrige Frau aus dem Nordirak. Insgesamt sieben der erwachsenen Opfer waren Frauen und 18 Männer.
Fischer finden einen Toten
Die Bestzung des Fischerbootes Johanna entdeckte am frühen Nachmittag des 10. Dezember 2021 vor der Küste von Calais einen Leichnam. Wie die Zeitungen La Voix du Nord und Nord Littoral übereinstimmend berichten, entdeckten die Fischer den Toten in ihrem Netz. Sie verständigten daraufhin das regionale Überwachungs- und Rettungszentrum CROSS Griz Nez und übergaben den Leichnam im Hafen von Calais an die Gendarmerie Maritime. Die Staatsanwaltschaft von Boulogne-sur-Mer leitete eine Untersuchung über die Todesursache ein. Der Körper soll sich bereits in einem Zutand fortgeschrittener Verwesung befunden haben. Ob es sich bei dem Toten um einen der im Ärmalkanal vermissten Exilierten handelt, ist noch unklar, kann aber vermutet werden. Mehrfach sind in den vergangenen Monaten Bootspassagiere als vermisst gemeldet worden. Neben der Havarie am 24. November, nach der die Leichen von 27 Menschen geborgen wurden (siehe hier und die folgenden Beiträge), haben sich seit August mehrere Havarien ereignet, nach denen Menschen vermisst wurden und mit hoher Wahrscheinlichkeit gestorben sind (siehe hier). Zivilgesellschaftliche Gruppen gedachten am Abend des 11. Dezember in Calais der Toten der Grenze.