Am 11. November gegen 15:00 eskaliert ein Polizeieinsatz auf dem Camp am BMX-Gelände in Calais [1]. Ein CRS-Beamter schießt einem Eritreer mit einem Gummigeschoss ins Gesicht und verletzt ihn schwer. Die Polizei behindert den Transport des Schwerverletzten, der auch noch eine Woche später im Krankenhaus behandelt werden muss, wo er nach wie vor nicht ansprechbar ist, und sein Zustand als kritisch eingeschätzt wird. Die Eritreer_innen in Calais wenden sich mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit.
Schlagwort: Polizeigewalt
Elf Geflüchtete klagen gegen den Präfekten
[Mit einen Update zum Prozessverlauf 2021]
Eine der größten Räumungsoperationen gegen die Calaiser Camps hat juristische Folgen: Elf betroffene Personen haben mit Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen eine Klage gegen den Präfekten des Pas-de-Calais eingereicht. Sie bezieht sich auf eine Räumung des Hospital Jungle in der Nähe des Calaiser Krankenhauses am 29. September 2020 und in den folgenden Tagen, die als eine der größten Polizeiaktionen dieser Art seit 2016 gilt (siehe hier, hier, hier und hier). Wir dokumentieren hier die Erklärung der acht Organisationen mit einer Aussage eines betroffenen Mannes. Das französischsprachige Original der Erklärung wurde am 5. November auf dem Blog Passeurs d’hospitalités veröffentlicht.
Als Reaktion auf die zweite Welle der Corona-Pandemie etablierte die französische Regierung im Oktober 2020 schrittweise einen neuen Lockdown. Die im Französischen als confinement bekannte Maßnahme umfasst im Kern eine Kontakt- und Ausgangssperre, die zunächst für die am stärksten betroffenen Regionen während der Nacht verhängt, am 30. Oktober dann auf das gesamte Land und die gesamte Tagesdauer ausgeweitet wurde. Die Maßnahme ähnelt dem ersten Confinement von März bis Juni 2020. Für einen Teil der in prekären Camps lebenden Menschen eröffnete die Seuche damals eine Möglichkeit, vorübergehend und freiwillig in eine feste Unterkunft wechseln zu können. Für die meisten jedoch verschärfte das Confinement die Lebensbedingungen in den Camps, auch weil elementare Versorgungsstrukturen, darunter die Verteilung warmer Mahlzeiten und der Zugang zu Trinkwasser, ganz oder teilweise wegbrachen. Gleichzeitig hielten die Räumungen und Gewaltakte durch Polizeikräfte unvermindert an oder nahmen sogar noch zu. Wir haben diese multiple Krise auf diesem Blog umfassend dokumentiert (siehe die Beiträge unter der Kategorie: Corona). In diesem und einigen folgenden Beiträgen wird es nun um die Zeit des zweiten Confimenent gehen – hier zunächst ein Überblick.
Interview mit den Human Rights Observers zur Lage der Menschenrechte in Grande-Synthe
Neben Calais ist Dunkerque der zweitwichtigste französische Hafen mit Fährverbindungen nach Großbritannien. Daher gibt es auch dort seit Langem informelle Camps, in denen früher fast ausschließlich irakische und iranische Kurd_innen, später auch Geflüchtete auf Afghanistan und anderen Ländern lebten. Die meisten Camps befinden sich in Grande-Synthe, einer benachbarten Kleinstadt. Der damalige grüne Bürgermeister Damien Carême hatte dort 2016 das Gelände La Linière für den Bau eines „humanitären Lagers“ bereitgestellt, das von vielen als positive Alternative zum Calaiser Jungle wahrgenommen wurde. Nach einem Brand, der das Lager im April 2017 fast vollständig zerstörte, wurde es geschlossen, doch siedelten sich im Winter 2019/20 einige hundert Migrant_innen in den baufälligen Ruinen von La Linière an, bis diese im Juni 2020 erneut geräumt wurden (siehe hier). Wie bereits früher, dient heute ein weitläufiges Erholungs- und Naturgebiet namens Puythouck als Lebensort der Menschen on the move. In der Öffentlichkeit wurden und werden sie viel weniger wahrgenommen als die Geflüchteten in Calais. Auch auf unserem Blog sind sie in den vergangenen Moanten weitgehend aus dem Blick geraten. Wir haben daher die Initiative Human Rights Observers, die seit drei Jahren die Entwicklung in Calais und Grande-Synthe verfolgt (siehe hier, hier und hier), um eine Einschätzung gebeten. Im Mittelpunkt des schriftlich geführten Interviews stehen die Menschenrechtslage und das Polizeiverhalten.
Die Initiativen Refugee Rights Europe und Human Rights Observers veröffentlichten jüngst eine Untersuchung der Menschenrechtslage in Calais und Grande-Synthe während der ersten Welle der Corona-Pandemie von März bis Juni 2020 (siehe hier). Ihr Bericht zeigte, dass die zuvor etablierten Routinen, physischen und psychischen Druck auf die Exilierten auszuüben, während des Lockdown nahezu unverändert fortgesetzt wurden. In erster Linie waren dies Räumungen im Zweitage-Turnus (mit anschließender Rückkehr der Betroffenen auf das geräumte Gelände), Festnahmen (oft ohne erkennbaren Grund) und die Wegnahme persönlichen Eigentums. Die monatlichen Berichte der Human Rights Observers illustrieren nun, wie sich die Menschenrechtslage danach, also zwischen den beiden Wellen der Seuche, entwickelte.
Neue Taktik und multiple Krise
Die groß angelegte Räumung des Hospital Jungle am 29. September 2020 und die Verbringung von rund 650 Bewohner_innen an teils weit entfernte Orte (siehe hier, hier und hier) war der Auftakt mehrerer weiterer Räumungen – und einer veränderten Vorgehensweise der Behörden bei der Versorgung der Geflüchteten mit Lebensmitteln und Wasser. Hierin zeigt sich eine Neujustierung der Polizeitaktik durch den neuen Präfekten des Departements Pas-de-Calais, Louis Le Franc.
Gemeinsame Erklärung von sieben Calaiser Organisationen.
Übersetzung aus Passeurs d’hospitalités.
Eine Woche nach dem Besuch von Claire Hédon, der französischen Défenseure des droits und drei Tage nach der Demonstration für die Rechte der exilierten Menschen (siehe hier) hat am „Hospital Jungle“ ohne offizielle rechtliche Grundlage eine Räumung im großen Stil stattgefunden. In Calais scheint zu gelten, dass Dreistigkeit siegt.
Neue Dimension von Räumungen
Am 29. September wurde der am Calaiser Krankenhaus gelegene Jungle geräumt (siehe hier). Inzwischen ist deutlich geworden, dass dies die größte Polizeiaktion gegen die Calaiser Migrant_innen seit 2016 war, als der damalige Jungle geräumt und seine zuletzt etwa 8.000 Bewohner_innen in Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt worden waren. Was ist inzwischen bekannt?
„Sind wir in Europa? Wir sind im Jungle.“
Ein heute veröffentlichtes YouTube-Video zeigt einen Polizeieinsatz in Calais aus der Perspektive der Betroffenen. Die Aufnahmen dokumentieren das aggressive Verhalten gegen eine Bewohnerin des Jungle und gegen ihre minderjährige Tochter. Auch andere Gewaltakte wie das gezielte Sprühen von CS-Gas gegen den Kopf einer Person sind zu sehen. „Sind wir wirklich in Europa? Wir sind im Jungle“, heißt es im Untertitel des Films, was sehr genau auf den Punkt bringt, dass menschenrechtliche Normen an diesem Ort suspendiert sind.
Im belgischen Mons begann am 6. August der Strafprozess u.a. gegen den Polizisten, der in der Nacht zum 17. Mai 2018 während der Verfolgung eines mutmaßlichen Schleuserfahrzeugs auf die Fahrerkabine geschossen und dadurch das kurdische Mädchen Mawda getötet hatte (siehe hier). Der Fall hatte in Belgien für erhebliches Aufsehen gesorgt. Eine Prozessbeobachterin berichtet.