In Grande-Synthe bei Dunkerque fand am gestrigen 16. November eine der größten Räumungen der vergangenen Jahre statt. Sie betraf ein Camp, in dem rund 1.000 bis 1.500 Menschen, meist irakische Kurd_innen, lebten. Eine zweite Räumung betraf am gleichen Tag ein Gelände in Marck bei Calais, auf das sich nach vorausgegangenen Räumungen hunderte Exilierte zurückgezogen hatten. Auf ihre jeweilige Weise wirken beide Räumungen wie politische Statements, denn sie fanden an exponierten Orten statt und geschahen im Kontext aufgeheizter Diskurse: Die Räumung der mehr als tausend Menschen in Grande-Synthe kann als ein Signal Frankreichs an Großbritannien verstanden werden, dass man noch entschlossener gegen potenzielle Bootsmigrant_innen durchgreife, während die Räumung bei Calais genau dort ansetzte, wo sich Aktivist_innen anderthalb Wochen zuvor einer solchen Aktion zweimal entgegengestellt hatten (siehe hier). Beide Räumugen widersprachen zudem diametral der Forderung der Hungerstreikenden, die seit dem 11. Oktober eine Aussetzung solcher Operationen während der Wintermonate gefordert hatten und ihre Aktion am heutigen 17. November abbrachen.
Schlagwort: Räumungen
Blockierte Räumung
Erstmals ist am heutigen 4. November in Calais die routinemäßige Räumungen eines Camps von lokalen Aktivist_innen und Exilierten durch eine gewaltfreie Blockade verhindert worden. Die Aktion am 25. Tag des Hungerstreiks reiht in einen Zyklus von Protesten ein, der binnen weniger Wochen eine in den vergangenen Jahren nicht gekannte Dynamik entfaltet hat.
Der Übergang von der dritten zur vierten Woche des Hungerstreiks in Calais fiel mit den katholischen Festtagen Allerheiligen und Allerseelen zusammen. Die Feiertage sind traditionell dem Gedanken an den Tod gewidmet. Einer der drei Hungerstreiken, der Geistliche Philippe Demeestére, zelebrierte am Abend des 2. November in der Kirche Saint-Pierre, wo der Hungerstreik stattfindet, einen Gottesdienst zu Allerseelen. An sich bereits ein symbolträchtiger Akt, erklärte Demeestére dabei, er sei „bereit, in seiner Kirche zu sterben“ (zit. n. Louis Witter, siehe oben). Sein durch den sakralen Kontext umso ernsteres Statement stellte zugleich eine Antwort auf die neue Vermittlungsmission von Didier Leschi dar, die kurz zuvor ergebnislos verlaufen und, anders als in der Vorwoche (siehe hier), von emotionalen Protesten begleitet war. Zu Beginn der vierten Woche des Hungerstreiks ist die Situation von Stillstand und Dynamik zugleich gekennzeichnet.
Räumungen trotz Winterfriede
„Erster November, Beginn des Winterfriedens. Heute Morgen fand eine neue Räumung statt. Entgegen den von der Regierung verbreiteten Behauptungen wurde erneut keine Lösung für die Unterbringung von Exilanten gefunden.“ Mit diesen Worten kommentierten die Hungerstreikenden in der Calaiser Kirche Saint-Pierre die Fortsetzung der Räumungen über den 1. November hinaus. Ab diesem Tag gilt in Frankreich ein Winterpause, die verhindern soll, dass Menschen während der kalten Jahreszeit durch Zwangsräumungen obdachlos werden. Eine Aussetzung der Räumungen zumindest während der Phase ist eine zentrale Forderung des Hungerstreiks.
Die Hungerstreikenden in der Calaiser Kirche Saint-Pierre (siehe hier und hier) konnten am 27. Oktober 2021, dem 17. Tag ihres Protests, eine erste Reaktion der französischen Regierung verzeichnen. Zwar sind ihre Forderungen nach wie vor nicht erfüllt. Doch reiste erstmals ein Abgesandter der französischen Regierung zu Gesprächen mit den Hungerstreikenden nach Calais.
Der Hungerstreik und der Sturm
Der am 11. Oktober begonnene unbefristete Hungerstreik in der Kirche Saint-Pierre in Calais dauert nun seit elf Tagen an. Nach wie vor wurde keine der Forderungen erfüllt, an die Anaïs Vogel, Ludovic Holbein und Philippe Demeestère die Beendigung ihres Protests binden: erstens Ende der routinemäßigen Räumungen zumindest während des Winters, zweitens ein Ende der massenhaften Beschlagnahmungen und drittens ein Dialog der Behörden mit den unabhänbgigen Organisationen der Geflüchtetenhilfe (siehe hier). Trotz erster Zugeständnisse der Behörden bleiben die Forderungen unerfüllt und insbesondere die Räumungspolitik gegenüber den Camps dauert an. Exemplarisch zeigt dies der 21. Oktober, als ein schwerer Sturm in Nordfrankreich schwere Schäden anrichtete.
Solidaritäts-Hungerstreik in Calais
Als ein Akt der Solidarität mit den Exilierten begannen drei Aktivist_innen am 11. Oktober in Calais einen unbefristeten Hungerstreik. In einer gemeinsamen Erklärung thematisieren Philippe Demeestère, Seelsorger von Secours Catholique, sowie Anaïs Vogel und Ludovic Holbein von der Initiative Shanti die unerträgliche Situation der Exilierten in Calais und benennen drei Bedingungen, unter denen sie ihren Hungerstreik beenden: Erstens die Aussetzung der routinemäßigen Räumungen der Camps zumindest während der Winterphase, zweitens ein Ende der Beschlagnahmung von Zelten und persönlichen Gegenständen der Exilierten sowie drittens einen Dialog zwischen den Behörden und den unabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, Verteilungsstellen für lebensnotwendige Güter einzurichten.
Räumung am Krankenhaus
Fast genau vor einem Jahr, am 29. September 2020, fand in der Nähe des Calaiser Krankenhauses eine der größten Räumungen der letzten Jahre statt (siehe hier, hier, hier und hier). Nun, am 28. September 2021, war das Gebiet erneut von einer groß angelegten Polizeioperation betroffen, nachdem während des Sommers bereits das nahe gelegene Magnésia-Areal mehrmals geräumt worden war (siehe zuletzt hier).
[Updated, 26.9.2021] In Grande-Synthe bei Dunkerque wurde am gestrigen 23. September 2021 ein Camp geräumt, in dem fast 800 Personen lebten. Während die Zelte und Hütten vollständig zerstört wurden, stellten die Behörden nur für einen kleinen Teil der Betroffenen Unterkünfte an anderen Orten bereit, sodass die überwiegende Zahl der Geräumten nun ohne den prekären Schutz der Behelfssiedlung dasteht.
Räumungen und Ressourcen: Einige Zahlen
Nach wie vor stellen Räumungen das wichtigste Instrument der Behörden zur Zermürbung der Exilierten und zu ihrer Unsichtmarmachung im öffentlichen Raum dar. Zugleich entziehen sie ihnen in großem Umfang materielle Ressourcen und binden damit indirekt auch die Kräfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dabei ist die Zahl der Exilierten, wie in jedem Sommer, gestiegen. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers erlaubt es, die Praxis des Ressourcenentzugs ungefähr zu quantifizieren.