[Mit einem Update, 9. September 2021] Es kommt vor, dass ein einzelnes Detail eine komplexe Situation repräsentiert. Ein solches Detail ist ein wenige Zentimeter langer Messerschnitt durch die Wand eines Trinkwasserbehälters, den das Calais Food Collective vor einigen Tagen aufgestellt hatte.
Monat: August 2021
Noch nie haben so viele Bootspassagier_innen den Ärmelkanal an einem Tag durchquert wie am 21. August 2021. Bei günstigem Wetter setzten, so BBC, 30 Boote mit insgesamt 828 Personen über. Die Zahl derjenigen, die seit Jahresbeginn auf diese Weise nach Großbritannien eingereist sind, stieg damit auf etwa 12.500 Personen.
Die Havarie eines Schlauchbootes am 12. August 2021 vor Dunkerque (siehe hier und hier) hat möglicherweise einem weiteren Menschen das Leben gekostet. Bislang war bekannt, dass ein Passagier zunächst das Bewußtsein verloren hatte und dann im Krankenhaus von Calais gestorben war. Offenbar handelt es sich um einen 27 Jahre alter eritreischer Mann namens M., der zuvor in einem Camp in Grande-Synthe lebte. Nun wurde bekannt, dass ein weiterer Passagier des gesunkenen Bootes vermisst wird.
Nach der Havarie, durch die am 12. August ein Bootspassagier starb (siehe hier), wurden nun einige Details über das Unglück und über den Umgang mit den Geretteten bekannt: Bei dem Opfer handelte es sich um einen 27jährigen Mann aus Eritrea. Bestätigt haben sich die am Tag des Unglücks veröffentlichten Meldungen über den Ablauf der Rettungsaktion. Allerdings veröffentlichte die Organisation Utopia 56 Schilderungen über den Umgang mit den Geretteten, die der behördlichen Darstellung widersprechen, man habe sich um die Menschen gekümmert.
Tod nach einer Havarie
Mehrere britische und französische Medien berichten am heutigen 12. August über eine große Search and rescue-Operation im Ärmelkanal. Wie Independent und BBC nun melden, ist es bei einer vorausgegangenen Havarie zu einem Todesfall gekommen. Demnach alarmierte „ein Frachtschiff gegen 10 Uhr die französischen Behörden, dass ein Boot mit rund 40 Migranten in Not sei und einige von ihnen im Wasser seien.“ Ein zum Rettungseinsatz herbeigerufener belgischer Militärhubschrauber habe bestätigt, dass das Boot gesunken sei. Einer der Passagiere „wurde vom Rettungsboot des Frachters bewusstlos aufgefunden, nachdem er Berichten zufolge einen Herz-Atemstillstand erlitten hatte. Er wurde dann auf die Flamant, ein französisches Patrouillenboot, gebracht, bevor er mit dem Flugzeug in ein Krankenhaus in Calais geflogen wurde, wo er später im Krankenhaus verstarb“, so Independent (und ähnlich BBC) unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft in Dunkerque. Andere Passagiere des gesunkenen Bootes seien mit dem belgischen Hubschrauber, wieder andere von Fischerbooten gerettet worden.
Die Charity Commission for England and Wales, das Aufsichtsgremium der britischen Regierung für registrierte Wohltätikeitsorganisationen in den beiden Landesteilen, hat eine Untersuchung von Care4Calais eingeleitet. Wie die Kommission am 5. August bekanntgab, bezieht sich die Untersuchung auf die Finanzverwaltung der Organisation. Zwei Mitarbeiter_innen einer Anwaltskanzlei wurden als Interimsmanager_innen eingesetzt. Care4Calais erklärte daraufhin, transparent mit der Kommission zusammenarbeiten zu wollen, ungeachtet dessen aber die Unterstützung der Exilierten fortzuführen.
Die Zahl der erfolgreichen Channel crossings ist Anfang August auf über zehntausend angestiegen. Bereits am 21. Juli war die Gesamtzahl des Vorjahres von rund 8.500 Passagen überschritten worden (siehe hier). Wie die BBC nun meldet, erreichten am 4. August 482 Exilierte in 21 Booten die Insel, gefolgt von 475 in 15 Booten am 5. August. Dies stellt einen neuen Höchstwert dar. Zum Vergleich: Der am stärksten frequentierte Tag des Vorjahres war der 2. September 2020 mit 416 Booten; gleichzeitig war der September der bis dahin am stärksten frequentierte Monat überhaupt. Die Gesamtzahl der Bootspassagen seit Jahresbeginn beträgt nach Angaben der britischen Behörden nun 10.711 Personen, den Kanal durchquert hatten sie in über 440 Booten.
Wie die in Calais tätige Organisation Utopia 56 am 30. Juli 2021 in einem Tweet mitteilte, hat es einen Angriff auf einen jugendlichen Exilierten in Calais gegeben: „Gestern hielt in Calais ein Auto am Rande eines Camps von exilerten Personen und schoss auf einen 15-jährigen Jungen. Er wurde in den Rücken geschossen. Er ist geschockt, aber nicht in Gefahr.“ Über Ablauf, Hintergründe und Motiv der Tat ist bislang nichts Näheres bekannt.
In diesem Frühjahr übte die britische Regierung Druck auf eine (tatsächliche) Hilfsorganisation aus, um zu verhindern, dass in den Camps von Grande-Synthe und Calais Flugblätter mit behördenunabhängigen Informationen über die Risiken einer Überquerung des Ärmelkanals in Booten oder versteckt in Lastwagen verteilt werden. Wir berichteten damals über den Fall (siehe hier). Das inkriminierte Flugblatt enthielt in mehreren Sprachen lebenswichtige Entscheidungshilfen und Informationen für den Notfall einschließlich offizieller Notrufnummern. So skandalös der Vorgang an sich bereits war, wurde durch Recherchen der Zeitung Independent nun bekannt, dass das britische Innenministerium eine Art Fake-Hilfsorganisation kreiert hat, um selbst Informationen ähnlichen Inhalts an Exilierte in Nordfrankreich zu vermitteln. Unter dem Namen On the move – informing migrants in transit erweckt eine anonym ins Netz gestellte Website den Eindruck, das Portal einer gleichnamigen, in Wirklichkeit aber nicht existierenden, Hilfsorganisation zu sein, neutral über die physischen, rechtlichen und frauenspezifischen Risiken einer undokumentierten Migration nach Großbritannien aufzuklären und gegebenfalls Hilfe zu bieten. Im Gegensatz zu den inkriminierten Flugblättern der realen Hilforganisationen geschieht dies allerdings mit dem Ziel der Abschreckung, unter Einsatz von Falschinformationen und obendrein unter Verzicht auf die so wichtigen Notrufnummern für den Fall des Falles. Hinweise auf das britische Innenministerium oder andere Behörden fehlten bei einer Sichtung der Webseite am gestrigen 1. August weiterhin völlig.