Das Londoner Home Office (Innenministerium) hat die auf französischem Boden eingesetzte britische Grenzpolizei einem BBC-Bericht zufolge angewiesen, die Fingerabdrücke von Migrant_innen zu erfassen, um sie im Fall einer späteren klandestinen Grenzpassage leichter abschieben zu können. Die Maßnahme bezieht sich auf den Terminal der Eurostar-Züge in Coquelles bei Calais und betrifft Personen, die unerlaubt in einen dieser Züge zu gelangen versuchen. Dieser Migrationpfad nach Großbritannien ist seit Jahren jedoch einer der am seltensten genutzten. Warum also diese Maßnahme?
Autor: tm
Über 500 Mal wurden informelle Lebensorte der Migrant_innen in Nordrrankreich seit Jahresbeginn geräumt. Und stärker als in den vergangenen Monaten wurden Zelte, Schlafsäcke und anderer Besitz beschlagnahmt oder zerstört. Dies geht aus den jetzt vorgelegten Monatsberichten der lokalen Initiative Human Rights Observers für den Monat Mai hervor. Zugleich weisen die Berichte auf einen hohen Anteil unbegleiteter Minderjähriger unter den Geflüchteten in Calais hin.
Der Jungle nach dem Lockdown
Kurz vor Beginn des Lockdown recherchierten wir in Calais. Nachdem wir nun, am 6. Juni 2020, erneut dort waren, ergibt sich ein vorläufiges Bild von den Veränderungen, die der Jungle im Verlauf der (vielleicht nur ersten) Seuchenwelle erlebt hat. Diese Veränderungen aber resultieren in erster Linie nicht aus der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung. Zwar haben sich die ohnehin prekären Lebensbedingungen in den Camps während des Lockdown weiter verschlechtert und sind elementare Versorgungsstrukturen zum Teil weggebrochen. Eine viel zitierte „Neue Normalität“ aber gibt es im Jungle nicht. Vielmehr entspricht die Situation beim Abklingen der Seuche sehr genau dem vorherigen Zustand und den damals bereits erkennbaren Tendenzen.
Zu Beginn des Lockdown hatte die Refugee Community Kitchen, eine zivilgesellschaftliche Initiative zur Versorgung der Migrant_innen mit warmen Mahlzeiten, ihre Arbeit in Calais eingestellt. Kurz darauf beendete auch die im staatlichen Auftrag arbeitende Organisation La vie active die Ausgabe warmer Mahlzeiten und ersetzte sie durch Lunchpakete. Dieser Wegfall einer elementaren Versorgungsstruktur war ein Hauptgrund für die Verschlechterung der ohnehin prekären Lebensverhältnisse während der Pandemie. Um eine Hungerkrise abzuwenden, verteilten zivilgesellschaftliche Initiativen daraufhin Lebensmittel und Brennholz zum Kochen an die Bewohner_innen des Jungle und der übrigen Camps. Nachdem die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nun gelockert wurden, wird die Refugee Community Kitchen ihre Arbeit wieder aufnehmen. Anfang Juni begannen technische Vorbereitungen. Die Ausgabe der Mahlzeiten soll in den kommenden Tagen beginnen.
Interview mit Help Refugees zur rechlichen Situation in der Brexit-Übergangsphase
Wir berichteten vor einigen Tagen über das Vorhaben der britischen Regierung, bestehende Verpflichtungen zur Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter mit Familienangehörigen in Großbritannien zu beenden. Hintergrund war der Entwurf eines Abkommens, mit dem die britische Regierung in der anstehenden Verhandlungsrunde zum Brexit-Vertrag die bisherigen Verpflichtungen aus der Dublin III-Verordnung durch unverbindliche Regelungen ersetzen möchte. Gleichzeitig hatte die britische Regierung das Ende einer 2016 gesetzlich verankerte Regelung zur Aufnahme eines Kontingents unbegleiteter Minderjähriger, des Dubs-Programms (Dubs scheme), bekanntgegeben. Im folgenden Interview fragten wir Josie Naugthon, Geschäftsführerin von Help Refugees, über die heutige rechtliche Situation in der Übergangsphase zwischen dem Vollzug des Brexit im Januar 2020 und dem geplanten Abschluss eines Brexit-Vertrags zum Jahresende.
Tod im Hafen
Am frühen Morgen des 25. Mai 2020 wurde am Fährhafen von Calais die Leiche eines jungen Mannes entdeckt – vermutlich eines Geflüchteten bei seinem Versuch, nach Großbritannien zu gelangen. Wenn sich diese Vermutung bestätigt, so wäre es der erste dokumentierte Todesfall im unmittelbaren im Kontext des kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsregimes seit Jahresbeginn.
Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Calais und anderen nordfranzösischen Orten besteht bislang eine Chance, legal nach Großbritannien einreisen zu dürfen. Sofern Familienangehörige dort lebten, können sie sich auf Regelungen zur Familienzusammenführung in der Dublin-Verordnung der EU berufen. Für weitere Kinder und junge Jugendliche, die aufgrund ihrer Lebensumstände besonders gefährdet waren, war 2016 eine gesetzliche Sonderregelung, das Dubs Amendment nach dem historischen Vorbild der sogenannten Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder in den Jahren 1938/39 geschaffen worden. Wie in den vergangenen Tagen bekannt wurde, hat die britische Regierung unter Boris Johnson dieses sogenannte Dubs-Verfahren für beendet erklärt und beabsichtigt darüber hinaus, die Regelungen zur Familienzusammenführung im Zuge der weiteren Brexit-Verhandlungen mit der EU abzuschaffen.
Deutsche Fassung
Maya Konforti von L‘Auberge des Migrants ist in Calais und Grande-Synthe seit 2014 aktiv. In diesem Interview reflektiert sie die jüngste Entwicklung und analysiert den aktuellen Stand der Evakuierungen, des Confinement (französische Corona-Schutzmaßnahmen), der Polizeigewalt und der Bootspassagen. Wir veröffentlichen den inhaltlich sehr dichten Text auf diesem Blog als Longread-Format.
Die Initiative Human Rights Obervers hat nun ihren Bericht über die Menschenrechtssituation in Calais und Grande-Synthe im Monat April 2020 veröffentlicht. Der Bericht bestätigt, dass der Beginn der Pandemie und der Schutzmaßnahmen (confinement) nicht zu einem Rückgang der nach wie vor stattfindenden Räumungen der Camps geführt hat. So registrierte die Gruppe in Calais 135 Räumungen vom Beginn des Confinement am 17. März bis zum Ende des Berichtszeitraums am 30. April. Davon entfielen 90 Räumungen auf den Monat April.
Die Entwicklung in der Wallonie
Der Fokus der wissenschaftlichen, aktivistischen und medialen Beschäftigung auf Calais als Kulminationspunkt und Symbolort der klandestinen kontinentaleuropäisch-britischen Migration lässt die Entwicklungen an den Rändern dieses Transitraumes oft unsichtbar werden. Dabei haben sich die Versuche, nach Großbritannien zu gelangen, längst auch nach Belgien ausgeweitet, und zwar nicht nur in der flämischen Küstenregion und in der Hauptstdt Brüssel, sondern auch an wenig bekannten Orten in der Wallonie, also der frankophonen Teilregion des belgischen Nationalstaates. Wir haben an dieser Stelle bereits über die Kleinstadt Waremme berichtet (siehe hier) und möchten den Blick nun auch auf andere Orte in den belgischen Provinzen Lüttich, Luxemburg und Hainaut (Hennegau) richten.