Die Informationen sind noch lückenhaft. Klar ist aber, dass sich am heutigen 24. November 2021 die bislang schlimmste Havarie auf der Kanalroute ereignet hat. Mindestens 31 Geflüchtete, so hieß es bis zum späten Abend, ertranken nördlich von Calais, mindestens eine weitere Person gilt als vermisst. [Update: Während der Nacht korrigierten die Behörden die Zahl auf 27 Todesopfer.]Während unter den lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Calais Trauer und Wut herrschen, reiste Innenminister Gérald Darmanin nach Calais. Die Regierungschefs Großbritanniens und Frankreichs beriefen Krisensitzungen ein. Hier eine Zusammenfassung der aktuell vorliegenden Meldungen.
Kategorie: Channel crossings & UK
Anders als in den Vorjahren, wird die Kanalroute in diesem Herbst nicht weniger, sondern trotz riskanterer nautischer Bedingungen stärker frequentiert. Was bereits Anfang November zu beobachten war (siehe hier), hat sich nun bestätigt. Zum vierten Mal in diesem Monat haben an einem Tag zwischen 800 und 1.200 Migrant_innen den Ärmalkanal per Boot durchquert. Insgesamt stieg die Zahl der Bootspassagen seit Jahresbeginn auf knapp 27.000 Personen an.
Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Kanalroute im Herbst weniger stark frequentiert würde – auch und gerade wegen der größeren Risiken während dieser Jahreszeit. Stattdessen erreichten am 11. Novmber 2021 zum ersten Mal mehr als tausend Channel migrants an einem einzigen Tag die englische Küste: 1.185 Personen in 33 Booten. Erst am 4. November war mit 853 Personen in 25 Booten überraschend ein Tagesmaximum gemeldet worden. Nach den Todes- und Vermisstenfällen der vergangenen Wochen werden erneut drei Menschen nach einer Havarie vermisst. Die Passage des Kanals ist deutlich gefährlicher geworden.
[Update, 5. November, abends] Sowohl auf See, als auch auf dem Festland haben sich innerhalb von nur zwei Tagen mehrere Todesfälle ereignet. Mindestens drei Exilierte verloren bei verschiedenen Havarien und Unfällen das Leben, eine weitere Person ist vermisst und eine andere lebensgefährlich verletzt. Seit August sind im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration mindestens sechs Menschen gestorben. Zählt man die vermutlich ertrunkenen Vermissten hinzu, deren exakte Zahl nicht bekannt ist, könnten es bis zu elf Todesopfer gegeben haben – fast alle innerhalb der vergangenen sechs Wochen. Währenddessen bargen französische Rettungsdienste so viele Exilierte aus Seenot wie selten zuvor, und noch nie erreichten so viele Channel migrants die englische Küste an einem einzigen Tag. Hier ein Überblick über die bislang bekannten Fakten.
Wie der BBC-Journalist Simon Jones meldet, ist die Zahl der erfolgreichen Bootspassagen nach Großbritannien in diesem Jahr auf über 20.000 Personen angestiegen, nachdem am heutigen 2. November 456 Personen in 15 Booten den Ärmelkanal überquert hatten. Die französischen Behörden hinderten weitere 343 Personen an der Überfahrt. Bereits während des gesamten Jahreslaufs war deutlich geworden, dass sich die Zahl der Passagen gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppeln würde. Im vergangenen Jahr hatten etwa 8.500 und ein Jahr zuvor etwas weniger als 2.000 Geflüchtete Großbritannien in Booten erreicht.
Vor der Küste von Harwich in der englischen Grafschaft Essex geriet am 25. Oktober ein Boot mit Migrant_innen in Seenot. Wie BBC berichtete, konnten zwei somalische Passagiere gerettet werden. Bis zu drei weitere Menschen gelten aus vermisst. Die Suche nach ihnen wurde inzwischen eingestellt.
Bald 20.000 Bootspassagen
Während im Oktober des vergangenen Jahres die Zahl der Bootspassagen stark zurückging, hält die Frequentierung der Kanalroute in diesem Oktober an. Nach Angaben der BBC passierten am Wochenende und Wochenbeginn vom 16. bis 19. Oktober 806 Menschen den Ärmelkanal und gelangten in britisches Hoheitsgebiet. Die Zahl der Channel crossers stieg damit auf über 19.400 Personen seit Jahresbeginn an und dürfte in Kürze die symbolpolitisch wichtige Grenze von 20.000 überschreiten. Am gleichen Wochenende wurden im französischen Teil des Kanals 482 Menschen aus Seenot gerettet.
Immunität bei Todesfällen?
Mit Blick auf Pushbacks im Ärmelkanal wies der der Guardian am 13. Oktober 2021 auf eine wenig beachtete Regelung im Entwurf eines neuen britischen Nationaltiäts- und Grenzgesetzes (Nationality and Borders Bill) hin. „A relevant officer is not liable in any criminal or civil proceedings for anything done in the purported performance of functions under this part of this schedule if the court is satisfied that (a) the act was done in good faith, and (b) there were reasonable grounds for doing it,“ lautet die an einer „obskuren Stelle“ (schedule 4A, part A1, paragraph J1) des Gesetzesentwurfs versteckte Passage. Unter Berufung auf „Kreise des Innenministeriums“ berichtet die Zeitung, die Regelung beziehe sich auf Pläne für Pushbacks im Ärmelkanal und solle die Beamt_innen der Border Force vor Strafverfolgung schützen. Insbesondere sollten diese strafrechrechtlich nicht verfolgt werden, „wenn ein Migrant in Gefahr ist oder ertrinkt.“ Mit anderen Worten geht es also um Immunität bei möglichen Todesfällen. Ob eine solche Regelung gegenüber anderen see- und strafrechtlichen Normen jedoch tatsächlich Bestand haben würde, ist nach Ansicht der Zeitung keineswegs sicher.
[Updated, 12. November 2021] „Es sieht so aus, als würden sie das Boot vom Heck und vom Bug aus anschieben, und ich vermute, dass die Idee dahinter ist, sie zurück in französische Gewässer zu schieben.“ Mit diesen Worten zitierte der Guardian am 10. Oktober eine Beobachtung, die Mitglieder von Channel Rescue in den vorausgegangenen beiden Wochen von der Steilküste in Dover aus gemacht hatte. Die Bericht ließ vermuten, dass die britische Border Force begonnen habe, die im September angekündigten Pushbacks – offiziell als turnaround-Taktik bezeichnet – tatsächlich durchzuführen (siehe hier und hier). Auch wir übernahmen diese Sicht in der ursprünglichen Version dieses Textes, doch teilte Channe Rescue auf Nachfrage mit, dass es keine wirklichen Belege für Pushbacks seit den Trainings im September gibt. Im gleichen Zeitraum aber griffen die französischen Behörden an der Nordküste ihres Landes zu neuen Maßnahmen wie Kontrollen an der belgischen Grenze und einer schwimmenden Barriere in einer Wasserstrasse. Und erstmals wurde ein Fall bekannt, bei dem ein ablegendes Boot beschossen worden sein soll. Gleichwohl wird die Kanalroute trotz des beginnenden Herbstes weiterhin stark frequentiert: Seit Jahresbeginn haben inzwischen mehr als 18.000 Migrant_innen den Kanal in Booten durchquert.
Der September 2021 ist der Monat, in dem seit dem Aufkommen der Kanalroute vor drei Jahren die meisten Exilierten per Boot nach Großbritannien gelangt sind. Seit Monatsbeginn zählten die britischen Behörden laut BBC die Überfahrt von 3.879 Personen. Die Zahl der Bootspassagiere seit Jahresbeginn beträgt nunmehr 16.312. Die Entwicklung war erwartbar, denn bereits im vergangenen Jahr war die Kanalroute im September besonders stark frequentiert, bevor die Passagen im Herbst deutlich zurückgingen. Trotz aller Polizeipräsenz entlang der französischen Nordküste folgt das Migrationsgeschehen also weiterhin dem aus dem vergangenen Jahr bekannten Verlaufsmuster – nur eben in größerem Umfang.