Seit der Nacht vom 2./3. März 2021 wird ein junger Sudanese bei Calais auf See vermisst, und nach Lage der Dinge ist es sehr wahrscheinlich, dass er nicht mehr lebt. Wie lokale Medien und das Portal InfoMigrants berichten, waren vier Geflüchtete aus dem Sudan von Sangatte, einer westlichen Nachbargemeinde von Calais, aus mit einem Kanu nach Großbritannien aufgebrochen. Nach dem Kentern des Bootes waren am späten Abend des 2. März zunächst zwei Passagiere unabhängig voneinander im Bereich der im Bau befindlichen Hafenerweiterung von Calais entdeckt worden. Beide hatten sich selbst dorthin gerettet und wurden anschließend im Krankenhaus behandelt. Am folgenden Morgen wurde dann ein weiterer Passagier gefunden. Dieser habe bestätigt, dass noch eine vierte Person an Bord gewesen sei: ein sudanesischer Jugendlicher, der nicht habe schwimmen können. Die daraufhin intensivierte Suchaktion mit Rettungsschiffen und einem Hubschrauber wurde schließlich gegen 15 Uhr bei dichtem Nebel eingestellt. Die Behörden gehen davon aus, dass der junge Mann nicht überlebt hat und sein Körper durch die Strömung in Richtung Belgien und Niederlande getrieben wurde. Aufgrund der niedrigen Temperaturen ist ein Überleben im Wasser nur kurze Zeit möglich. Es wäre der 302. dokumentierte Todesfall im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration.
Kategorie: Channel crossings & UK
In einem der ersten Beiträge dieses Blogs berichteten wir im April 2020 über den zahlenmäßigen Anstieg der Bootspassagen nach Großbritannien (siehe hier). Damals war seit Jahresbeginn etwa 500 Menschen die Überfahrt gelungen – ein Viertel der erfolgreichen Passagen des gesamten Vorjahres. Nun, ein Jahr später, haben in nur zwei Moanten bereits 531 Menschen den Ärmelkanal in kleinen Booten durchquert. Die Dynamik dieser innereuropäischen maritimen Migrationsroute scheint damit ungebrochen zu sein. Ein weiteres Mal kündigte die britische Regierung nun ihre Schließung an, diesmal durch eine Angleichung des Strafmaßes für Menschenschmuggel an das Strafmaß für Mord.
Ankunftsland UK (Teil 3): Die kalkulierte Unmenschlichkeit der Napier Barracks
Erbärmliche Lebensbedingungen, Suizidversuche, ein massiver Covid-Ausbruch: die Unterbringung von Asylbewerbern in einer Kaserne bei Folkestone sorgt seit Monaten für Kritik. In diesem Winter hat sie sich drastisch zugespitzt.
Im September 2020 starb im Zusammenhang mit den Bootspassagen nach Großbritannien ein nur wenige Tage alter Säugling. Dieser Todesfall wurde erst jetzt bekannt, nachdem sich die Mutter in einem offenen Brief (siehe unten) an die Öffentlichkeit gewandt und die französische Polizei für den Verlust ihres Kindes verantwortlich gemachte hatte. Veröffentlicht wurde das Schreiben auf der Website der Calais Migrant Solidarity, die hierzu ergänzt: Das Mädchen Aleksandra H. wurde am 2. September 2020 geboren und starb am 5. September 2020 an perinataler Anoxie infolge einer Frühgeburt. Ihre Familie, so auch die hochschwangere Mutter, wurde an einem Strand von der Polizei abgefangen, nachdem sie versucht hatte, per Boot nach Großbritannien zu gelangen. Sie waren geschockt, durchnässt und froren, und obwohl sie um Hilfe baten, mussten sie mehr als fünf Stunden warten, bevor sie sich ins Krankenhaus begeben konnten. Vorher hatte die Frau keine medizinische Behandlung erhalten. Eine Notgeburt wurde durchgeführt, aber trotz der Bemühungen der Ärzt_innen überlebte das Baby nicht. Inzwischen haben die Eltern Klage eingereicht; durch den Brief möchte die Mutter erreichen, dass ihre Geschichte gehört wird.
„Großbritannien schließt die Tür für unbegleitete Flüchtlingskinder“, titelte die Zeitung The Independent am 26. Januar 2021. Hintergrund war eine Erklärung des britischen immigration minister (vergleichbar einem deutschen Staatssekretär) Chris Philp vier Tage zuvor. Der konservative Politiker hatte dargelegt, dass die britische Regierung nur noch in sehr begrenzten Fällen unbegleitete minderjährige Geflüchtete aufnehmen werde. Ohne es direkt auszusprechen, erklärte Philp damit ein humanitäres Aufnahmeprogramm für beendet, das der Labour-Politiker Lord Alfred Dubs im Mai 2016 nach dem Vorbild der historischen „Kindertransporte“ der Jahre 1938/39 im britischen Einwanderungsrecht verankert hatte.
Trotz der eisigen Temperaturen, aber begünstigt durch eine ruhige Wetterlage, hat die Zahl der Bootspassagen in den vergangenen Tagen wieder zugenommen. Am 9. Januar erreichten 103 Menschen Großbritannien per Boot; dies waren mehr als im gesamten Januar 2020, als es knapp 100 gewesen waren. Weitere 20 Personen schafften die Kanalquerung am 10. Januar.
Im Jahr 2020 passierten sehr viel mehr Migrant_innen den Ärmelkanal in Booten als jemals zuvor. Laut verschiedenen britischen Quellen waren es über 8.400, vielleicht über 8.700 Personen und mehr als 500 Boote – mehr als viermal so viele wie im Vorjahr und ein Vielfaches mehr als in früheren Zeiten. Während dies nur einen Bruchteil des Migrationsgeschehens nach Großbritannien ausmacht, sind die Boote zur vorherrschenden und effizientesten Migrationstechnik im Calais-Kontext geworden. Aber trotz ihrer hohen Erfolgsausicht hat diese Migrationstechnik Schattenseiten.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 3)
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Im letzten Teil des Interviews spricht Maël Galisson über die Todesfälle auf See, über die Sekuritisierung des Ärmelkanals, über den Umgang mit den Körpern der Toten und über das, was politisch zu tun wäre.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 2)
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Im zweiten Teil des Interviews schildert Maël Galisson einige der insgesamt 297 erfassten Todesfälle im französisch-britischen Grenzraum. Er analysiert die historische und geographische Entwicklung und geht insbesondere den Todesursachen nach: Es sind, so Galisson, vor allem strukturelle Ursachen – untrennbar verbunden mit der Grenz- und Migrationspolitk beider Länder.
Interview mit Maël Galisson über die Toten der französisch-britischen Grenze (Teil 1)
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Maël Galisson dokumentiert seit vielen Jahren die Todesfälle von Exilierten im französisch-britischen Grenzraum. Für die Rechtshilfe-Initiative GISTI, das Londoner Institute of Race Relations und das Permanent Peoples‘ Tribunal legte er kürzlich die Studie Deadly Crossings and the militarisation of Britain’s borders vor, die wir an dieser Stelle bereits vorgestellt haben (siehe hier). In einem Interview mit unserem Blog gibt Maël Galisson nun Auskunft über sein Projekt, diese Grenztoten in Erinnerung zu halten, über die tödlichen Folgen der momentanen Grenz- und Migrationspolitik, über zynische Instrumentalisierungen und über das Unsichtbarmachen der Opfer über ihren Tod hinaus. Wir veröffentlichen das schriftlich geführte Interview in mehreren Teilen.