Ein junger Mann aus dem Sudan starb am gestrigen 14. Januar bei einer versuchten Übequerung des Ärmelkanals. Er ist das erste dokumentierte Todesopfer in diesem Jahr. Die Havarie ereignete sich vor der Küste von Berck-sur-Mer südlich von Boulogne. Dies ist ein Bereich des Ärmelkanals, in dem die zurückzulegende Entfernung zur englischen Küste wesentlich größer ist als vom Küstenabschnitt zwischen Calais und Boulogne aus. Ein Effekt der stärkeren polizeilichen Überwachung dort ist die Verlagerung von Abfahrten in weniger stark kontrollierte, jedoch auch riskantere Küstenregionen.
Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.
Rechtsextremes Gewaltspiel
Im Rahmen des französischen Präsidentschaftswahlkampfs veröffentlichte der Calaiser Chef des Rassemblement National, Marc de Fleurian, am gestrigen 3. Januar 2022 ein Video, das recht unverholen zu Gewalt gegen Exilierte aufruft. Der nur sechs Sekunden lange Film wurde bei Nacht am Hochsicherheitszaun des Fährhafens von Calais aufgenommen. Er zeigt in einiger Entfernung eine Gruppe schwarz gekleider Personen und legt nahe, dass es sich um Exilierte handelt. Im Vordergrund ist eine Hand zu sehen, die eine Pistole auf die Gruppe richtet. Die Szene ist so aufgenommen, dass die oder der Betrachtende in die Rolle desjenigen versetzt wird, der mit der Schusswaffe durch Calais geht, so als herrsche dort ein Krieg, und auf Geflüchtete zielt. Über den Entstehungskontext und die Urheberschaft des Videos wird nichts gesagt. Der kurze Text des rechtsextremen Wahlkämpfers besagt stattdessen, dass die Bürger_innen von Calais nur dadurch, dass sie Marine Le Pen zur Staatspräsidentin wählten, ein Recht auf Sicherheit wiedererlangen könnten, während das Bild eine andere Option zeigt: die Waffe. Es ist ein Film im Grenzbereich eines Rechtspopulismus, der Migration als einen einzigen Gewaltakt halluziniert, hin zu einem Rechtsterrorismus, der die Waffe gegen Migrant_innen richtet und ein solches Handeln denen offeriert, sich sich in seinen Blasen bewegen.
Im Laufe des Jahres 2021 haben insgesamt 28.431 Männer, Frauen und Kinder den Ärmelkanal in unsicheren Booten durchquert. Diese Gesamtzahl wurde am heutigen 1. Januar 2022 bekannt. Für 28.431 Menschen bedeutete dies, einer Situation existenzieller Unsicherheit ausgesetzt zu sein und mit der Möglichkeit des eigenen Todes rechnen zu müssen, statt einen angemessenen Weg nach Großbritannien nehmen zu können: die Fähre oder den Eurostar. Der Nexus von Migrationspolitik und Tod ist auf Kanalroute noch nie so sichtbar geworden wie in den vergangenen Monaten, als wiederholt Menschen auf See verschwanden, Leichen an die nordfranzösische Küste gespült wurden und am 24. November schließlich mindestens 27 Passagier_innen eines Schlauchboots ertranken. Währenddessen hat die Dynamik der Kanalroute stärker zugenommen, als es zu erwarten gewesen wäre: Die Zunahme erfolgreicher Bootspassagen gegenüber dem Vorjahr, als rund 8.500 Channel crossers britisches Hoheitsgebiet erreichten, beträgt 337 %. Auch der Stellenwert dieser Route innerhalb des europäischen und globalen Migrationsgeschehens hat sich verändert.
Januar 2022
Wir verlinken hier eine Auswahl aktueller Meldungen aus den Medien und Beiträge von Exilierten und Aktivist_innen und mit Bezug zur Situation im kontinentaleuropäisch-britischen Migrationsraum.
CS-Gas nach Gegenwehr
[Update, 3. Januar 2022] Bei einer Räumung in der Calaiser Nachbargemeinde Marck kam es am gestrigen 30. Dezember 2021 zu einer Auseinandersetzung zwischen der Polizeieinheit CRS und Bewohner_innen eines Camps. Auslöser war die Beschlagnahme von Zelten und insbesondere der Umstand, dass die Besitzer_innen nicht mehr ihre persönlichen Sachen aus den Zelten holen konnten. Die Gegenwehr mündete einer in größeren Auseinandersetzung zwischen Exilierten und CRS, die sich auf ein benachbartes Wohngebiet ausweitete und in deren Verlauf die Polizei massiv CS-Gas einsetzte.
Eines der wenigen konkreten Ergebnisse des europäischen Ministertreffens nach der verheerenden Havarie vom 24. November war die Entsendung eines militärischen Aufklärungsflugzeugs der europäische Grenzschutzagentur Frontex nach Lille mit dem Auftrag, die Küste vor der Calaiser Region zu überwachen. Ob die ersten Einsätze Symbolpolitik waren, aufgrund der kurzfristigen Verlegung ohne ausreichende Kenntnis des modus operandi der Bootspassagen erfolgten oder der Vorbereitung späterer Einsätze dienten, bleibt spekulativ.
Eine Messe als solidarische Geste
Am Abend des heutigen 24. Dezember 2021 wird der Bischof von Arras, Olivier Leborgne, am eritreischen BMX-Camp in Calais die Weihnachtsmesse zelebrieren. Angestoßen wurde diese Geste vom Jesuitenpater Philippe Demeestère, einem der drei Aktitivist_innen, die im Oktober und November den Hungerstreik gegen die entwürdigende Behandlung der Exilierten durchgeführt hatten (siehe hier). Demeestère, der den Hungerstreik vorzeitig hatte abbrechen müssen, hatte damals weitere Aktionen angekündigt, die vor allem auf praktische Solidarität zielten. Eine davon ist die Messe im Camp. Seiner Erfahrung nach ist es die erste größere religiöse Feier an einem Lebensort der Exilierten nach der Zerstörung des großen Jungle einschließlich seiner äthiopisch-orthodoxen Kirche und seiner diversen Moscheen im Oktober 2016. Neben der politischen Symbolik, die in der Feier liegt, stellt sie für die Gläubigen unter den Exilierten auch eine immaterielle Ressorce dar, die von den säkular orientierten Hilfsorganisationen naturgemäß nicht bereitgestellt werden kann.
[Udpated, 26. Dezember 2021] Um die Umstände des Todes von mindestens 27 Exilierten bei der Havarie am 24. November aufzuklären, hat Utopia 56 nun mehrere zuständige französische und britische Beamt_innen vor dem Gerichtshof (Tribunal judiciaire) von Paris verklagt. Wie die Organisation am 20. Dezember mitteilte, richtet sich die Klage gegen den Seepräfekten für den Ärmelkanal und die Nordsee, Philippe Dutrieux, den Direktor der französischen Rettungsleitstelle CROSS Griz Nez, Marc Bonnafous, die Direktorin der britischen Küstenwache, Claire Hughes, sowie mögliche andere „Täter, Mittäter oder Komplizen“. Ausgangspunkt der Klage sind die durch Flugdaten eines britischen Rettungshubschraubers gestützten Aussagen der beiden Überlebenden der Havarie, dass wiederholt abgesetzte Notrufe stundenlang nicht zu einem Rettungseinsatz führten und sich die zuständigen Stellen gegenseitig die Verantwortung zugeschoben hätten (siehe ausführlich hier und hier).
Zwei Tote in Marck
In den vergangenen Tagen starb nicht nur ein Lastwagenfahrer nach einem Konflikt mit Exilierten, wovon unser voriger Beitrag handelt. Am gleichen Tag wurde in der Gemeinde Marck bei Calais die Leiche eines Menschen angespült – vermutlich ein Geflüchteter, der im Ärmelkanal ertrunken ist. In der folgenden Nacht verunglückte ebenfalls in Marck ein Jugendlicher tödlich beim Versuch, sich in einem Lastwagen mit dem Fahrtziel Großbritannien zu verstecken.