Am 13. April 2020 richteten eritreische Geflüchtete aus dem Jungle von Calais einen offenen Brief an den Präfekten des Pas-de-Calais und an die Medien, in dem sie ihre inhumane Behandlung durch die Polizeieinheit Compagnies républicaines de sécurité (CRS) anprangern. Dabei schildern sie acht Vorfälle aus der Zeit zwischen dem 26. und 31. März, bei denen Angehörige der eritreischen Community meist einzeln oder in Kleingruppen attackiert und misshandelt worden seien.
Zunahme der Bootspassagen
Seit Beginn des Jahres 2020 ist es ungefähr 500 Migrant_innen gelungen, auf Booten von der französischen und belgischen Küste nach Großbritannien zu gelangen. Obwohl im Februar mehrere schwere Stürme die Kanalregion heimsuchten und im März massive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufgrund der Corona-Pandemie in Kraft traten, ist dies die höchste Anzahl für die Wintermonate seit der Verfestigung dieser maritimen Migrationsroute vor anderthalb Jahren.
Am 8. April 2020 machte Auberge des Migrants zum wiederholten Mal in einem offenen Brief an den Präfekten des Pas-de-Calais und über Facebook auf die unzulässige Verschlechterung der Lebensbedingungen im Jungle und den Camps von Calais aufmerksam. Mängel bestehen demnach in Bezug auf Hunger, Ratten, ungenügende Wasserversorgung, Müll, Abschiebung, Gewalt und Geldstrafen.
Die Versorgung der Geflüchteten und ihrer Camps in Nordfrankreich hängt wesentlich von zivilgesellschlichen Vereinigungen ab, deren Arbeit seit vielen Jahren immer wieder von Polizeibehörden eingeschränkt und behindert wird. Dies ist auch während der Coronakrise der Fall, und mehr noch: Die Schutzmaßnahmen vor der Ausbreitung der Seuche werden offenbar dazu genutzt, die Arbeit der Organisationen und damit die Grundversorgung der Geflüchteten zu erschweren und zu kriminalisieren. Zwei der wichtigsten Vereinigungen, Auberge des Migrants und Utopia 56, haben sich am 8. April an die Presse gewandt. Gleichzeitig kündigten sie an, ihre Arbeit ungeachtet der bereits verhängten und künftig erwarteten Sanktionen fortzuführen.
Wie die Regionalzeitung La Voix du Nord am 6. April 2020 berichtet, ging die Evakuierung des Jungle in Calais weiter. Am Montag seien weitere 70 Migrant_innen mit Bussen in Unterkünfte in der Region Hauts-de-France gebracht worden. Somit scheinen sich zumindest aktuell die Befürchtungen einer zwangsweisen Verbringung in entferntere Regionen noch nicht zu bewahrheiten. Die Region Hauts-de-France entstand am 1. Januar 2016 durch den Zusammenschluss der bisherigen Regionen Nord-Pas-de-Calais und Picardie.
Auch in Brüssel leben momentan ungefähr 500 Migrant_innen mit dem Migrationsziel Großbritannien. Die Corona-Pandemie veränderte auch ihre Lage. Zwar verschlossen die Behörden ihren wichtigsten Treffpunkt, den Maximilianpark. Dennoch wurde – anders als in Calais und Grande Synthe – rasch eine Unterbringungslösung für so gut wie alle realisiert.
In den Monaten Januar bis März 2020 führten die Polizeibehörden in Calais und Grande-Synthe mindestens 320 Räumungen durch. In Calais waren es rund 100 Räumungen im Monat. Auch im März, als die Corona-Pandemie ausbrach, verringerte sich die Zahl kaum. Allein für die Zeit des Lockdown, der am 17. März begann, sind dokumentieren die Human Rights Obervers 45 Räumungen – und damit 45 vermeidbare Ansammlungen einer großen Zahl von Menschen. Die monatlichen Berichte der Gruppe vermitteln einen Einblick in Strukturen und Praxen einer auf Zermürbung zielenden Politik vor Beginn und am Anfang der Krise.
Wie die zivilgesellschaftliche Hilfsorganisation Care for Calais am 3. April 2020 auf Facebook mitteilte, hätten erste Evakuierungen am gleichen Tag begonnen. Die französischen Behörden hätten Unterbringungsmöglichkeiten auf freiwilliger Basis angeboten. Trotz hohen Misstrauens auf Seiten der Migrant_innen hätten 80 dieses Angebot angekommen. Jede Woche sollten nun mehrere Busse kommen, um Personen auf freiwilliger Basis zu diesen Einrichtungen zu bringen. Aktuell stünden wohl 400 Plätze zur Verfügung.
Zunächst eine Vorbemerkung: Bisher haben wir den Begriff „Räumung“ benutzt. „Räumung“ bedeutet für uns, dass Gewalt oder Zwang angewendet wird. Aufgrund der aktuellen hohen gesundheitlichen Risiken der Migrant_innen im Jungle aufgrund der Corona-Epidemie scheint er uns im momentanen Kontext nicht treffend. Einen Transport in (Wohn-)Gebäude auf freiwilliger Basis sehen wir positiv und würden dies eher als „Evakuierung“ bezeichnen. Den Begriff „Auflösung“ nutzen wir künftig dann, wenn noch nicht abzusehen ist, ob es sich um eine „Räumung“ oder eine „Evakuierung“ handelt, also in der Regel im Vorfeld einer staatlicherseits geplanten Aktion.
Waremme ist eine Kleinstadt in der Wallonie. Folgt man der Europastrasse 40 von Lüttich (Liège) nach Brüssel, passiert man den gleichnamigen Autobahnrastplatz. Seit mehreren Jahren nutzen Geflüchtete ihn, um sich dort in einem Lastwagen nach Großbritannien zu verstecken. Die E 40 führt in ihrem weiteren Verlauf über Brüssel und Oostende zu den Fährhäfen von Dunkerque und Calais. Anders als viele der Raststätten auf dieser Strecke ist diejenige in Waremme noch nicht durch Zäune und Klingendraht gesichert.