Kurz vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase hat die Entwicklung der Corona-Pandemie in Großbritannien überraschend zu einer weitgehenden Schließung der britischen Grenze für den (legalen) Personenverkehr zwischen dem europäischen Festland und den britischen Inseln geführt. Auch Frankreich hat den Grenzverkehr für Personen (zunächst) für zwei Tage, den 21. und 22. Dezember, unterbrochen. Das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime steht damit im Kontext einer multiplen Krise: Versorgungsengpässe und Überlastungen der Verkehrsinfrastrukturen aufgrund des Brexit fallen zeitlich mit einer katastrophischen Dynamik des Seuchengeschehens zusammen; der disruptive Abbruch der Verkehrsflüsse trifft auf eine politisch skandalisierte Migration. Diese wiederum scheint sich momentan von den Bootspassagen wieder stärker zum Frachtverkehr zu verlagern, worauf die französischen Behörden vor allem gewaltsam reagieren. Es ist noch zu früh, um diese Dynamiken präzise beschreiben zu können. Aber es gibt einen Indikator, der zumindest eine vorläufige Skizze erlaubt: Staumeldungen.
Schlagwort: Grenzregime
Ohne großes öffentliches Aufsehen hat die britische Regierumg eine Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen vorgenommen, die zum Vollzug des Brexit am Jahreswechsel 2021/21 in Kraft treten wird. Kern der neuen Bestimmungen ist eine Drittstaatenregelung, nach der Asylanträge ab dem 1. Januar 2021 als „unzulässig“ gelten, wenn die Person über ein „sicheres Drittland“ bzw. über die EU nach Großbritannien gelangt ist; außerdem erlaubt die Regelung unter bestimmten Umständen die Abschiebung in beliebige Drittländer. Die Verschärfung richtet sich u.a. gegen die Bootsmigrant_innen auf der Kanalroute und kann, wie die französisch-britische Vereinbarung vom 28. November 2020 (siehe hier), als Baustein des Post-Brexit-Grenzregimes angesehen werden. Faktisch wird sie die Rechtsunsicherheit von Migrant_innen in Großbritannien erhöhen und ihnen ein Leben in limbo zumuten.
Die britische Innenministerin Priti Patel und ihr französischer Amtskollege Gérald Darmanin schlossen am 28. November 2020 eine neue zwischenstaatliche Vereinbarung zur Bekämpfung der Bootspassagen nach Großbritannien. In einem gemeinsamen Statement sprechen sie von ihrer Entschlossenheit, „das Phänomen der kleinen Boote zu eleminieren (to eliminate the small boats phenomenon)“. Es ist jedoch absehbar, dass dies, wie ähnliche Ankündigungen der vergangenen Jahre, Rhetorik bleiben wird. Denn tatsächlich beinhaltet die Vereinbarung (oder das, was über sie bekannt gegeben wurde) nichts, das nicht auch in früheren Texten schon formuliert wurde. Was die neue Vereinbarung vor allem auszeichnet, ist ein Festhalten an etablierten Mustern der Sekuritisierung (siehe hier) und vor allem: der Externalisierung der britischen Grenzpolitik auf französisches Territorium. Schauen wir uns die Sache genauer an.
von Thom Tyerman und Travis Van Isacker
Vorbemerkung: Der folgende Essay behandelt das kontinentaleuropäisch-britische Grenzergime vor dem Hintergrund der zahlreichen Bootspassagen im Sommer 2020. Er wurde am 9. Oktober unter dem Titel Border Securitisation in the Channel auf dem Blog Border Criminlogies veröffentlicht. Der Blog stützt sich auf ein transnationales Netzwerk zur Grenzregimeforschung und ist am Centre for Criminology der Universität Oxford angesiedelt. Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit politischen Aktivist_innen, die zum britischen Grenzregime in Nordfrankreich arbeiten, darunter: Watch the Channel, Calais Migrant Solidarity und Calais Research. Die Autoren forschen über die Sekuritisierung der britischen Grenzen und haben u.a. über Räumungen migrantischer Lebensorte in Calais publiziert. Im Mittelpunkt des folgenden Textes steht die Fragen, inwiefern die zunehmende Grenzsicherung die Risiken der Kanalquerung verstärkt und ob die Forderung nach legalen und sicheren Routen tatsächlich einen Ausweg aus dieser Situation eröffnet.
Das Ertrinken von Shiva Mohammad Panahi, Rasul Iran Nezhad, ihrer Kinder Artin, Armin und Anita sowie zweier weiterer Menschen vor Loon-Plage am 27. Oktober 2020 (siehe hier und hier) war das bislang schlimmste Unglück während einer migrantischen Bootspassagen nach Großbritannien. Mit ihrem Tod stieg die Zahl der Menschen, die durch das kontinentaleuropäisch-britische Grenzregime ihr Leben verloren haben (und von denen wir dies wissen) auf beinahe 300. In keiner anderen Grenzregion im Inneren Europas gab es nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Eisernen Vorhangs so viele Grenztote wie in der Region rund um den Ärmelkanal. Trotz der räumlichen Nähe ist diese Tatsache kaum je in das Bewußtsein der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland gerückt. Daher hier ein Überblick.
Durch Recherchen der Zeitungen Guardian und Fiancial Times wurden in den vergangenen Tagen Details über Gedankenspiele und Testläufe eines radikalisierten britischen Grenzregimes bekannt. Diese unterscheiden sich grundlegend von den zwischenstaatlichen Regelungen und Routinen, die die seit den 1980er Jahren zwischen Großbritannien und Frankreich etabliert wurden. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen Pushbacks an der französisch-britischen Seegrenze in der Mitte des Ärmelkanals, die mögliche Errichtung einer schwimmenden Barriere und Offshore-Internierungen von Channel crossers nach australischem Vorbild. Nichts davon ist bisher Realität. Was aber deutlich wird, ist die Orientierung der Regierung Johnson und des Home Office (Innenministerium) an einigen der repressivsten Grenzregimen der Welt.
Der Tod von Abdulfatah Hamdallah (siehe hier und hier) ist in Frankreich und Großbritannien zu einem Symbol für die Situation der Migrant_innen am Ärmelkanal geworden. Zugleich nutzten Vertreter_innen beider Regierungen ihn als Bühne, um Forderungen nach einer Verschärfung des Grenzregimes zu formulieren und Schleusern die Schuld an diesem Todesfall zuzuschreiben, obwohl die bisher bekannt gewordenen Fakten gerade diesen Schluss nicht zulassen. Hiergegen richtet sich eine gemeinsame Erklärung von 16 Organisationen, die in verschiedenen wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und aktivistischen Kontexten seit Jahren mit der regionalen Situation vertraut sind. Als einer von mindestens 275 Todesopfern in diesem Grenzraumes ist Abdulfatah Hamdallah, so ihre Argumentation, in erster Linie ein Opfer der europäischen Migrations- und Grenzpolitik. Hier eine Übersetzung der Erklärung.
Grenzregime auf Steroiden
Der hier verlinkte Artikel erschien am 20. August in der Wochenzeitung Jungle World. Geschrieben wurde er wenige Tage vor dem Tod Abdulfatah Hamdallahs und fasst die Entwicklung bis dahin zusammen.
Wir haben an dieser Stelle regelmäßig über die monatlichen Berichte der Human Rights Observers (HRO) berichtet (zuletzt siehe hier)
Aktuell ist der Jahresbericht für das Jahr 2019 erschienen. Dieser wurde von den Organisationen Auberge des Migrants, Human Rights Observers und Help Refugees in Zusammenarbeit mit Refugee Women‘s Centre, Utopia 56, Refugee Info Bus, Project Play, collective aid und La Cabane Juridique verfasst. Er liefert nicht nur einen Überblick über die polizeilichen Übergriffe des Jahres 2019, sondern ordnet diese auch in die Entwicklung des britisch-französischen Grenzregimes ein. Er ist unserer Meinung nach sehr lesenswert, da er – auch ohne große Vorkenntnisse – in die Situation in Calais und Grande-Synthe bis hin zu den channel crossings (siehe z.B. hier) einführt. Ebenso erläutern die HRO ihre Entstehungsgeschichte und die Methodik ihrer Datenerhebung.
Hier eine Zusammenfassung:
Grenzpolitische Bühne
Die Räumungen, der Ministerbesuch und eine französisch-britische Vereinbarung
Besuche französischer Innenminister nach erfolgter Räumung von Camps sind ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte der Calaiser Migration. Auch die Räumungswelle des 10. und 11. Juli, die von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen als die heftigste und brutalste seit Jahren beschrieben wurde (siehe hier und hier), hat eine solche Bühne geschaffen, auf der nationale Politiker_innen ihre Handlungsmacht demonstrieren und ihre lokalen Kolleg_innen ihre Forderungen artikulieren konnten: Am 12. Juli 2020 besuchte der neue französische Innenminister Gérald Darmanin Calais. Er traf dort auch mit seiner britischen Amtskollegin Priti Patel zusammen. Beide schlossen ein Abkommen zur Schaffung einer grenzpolizeilichen Nachrichteneinheit. Gleichzeitig überschlugen sich die Ereignisse.