Als am 6. Februar 2014 die spanische Guardia Civil gewaltsam gegen den Versuch einiger hundert Geflüchteter vorging, die stark gesicherte Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Ceuta zu überqueren, wurden 15 Menschen getötet, weitere blieben vermisst. Sechs Jahre nach diesem Gewaltakt, den sie als Massaker von Tarajal erinnerten, trafen sich Angehörige der Opfer und der Vermissten, politische und künstlerische Aktivist_innen im marokkanischen Oujda zum Gedenken und zum Protest, kurz: CommemorAction. Daraus bildet sich seitdem eine internationale Bewegung, die den 6. Februar als „Tag des Kampfes gegen das Regime des Todes an den Grenzen“ begreift und mit der Forderung nach „Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung für die Migrationsopfer und ihre Familien“ verbindet. An zahlreichen Orten werden an diesem Tagen dezentrale Aktionen stattfinden, die sowohl Gedenken als auch Protest sein sollen. Einer dieser Orte ist Calais. Wir dokumentieren im Folgenden den Aufruf zur Teilnahme.
Das britisch-französische Grenzregime wird auf beiden Seiten des Ärmelkanals bislang vorrangig als Aufgabe der Polizei wahrgenommen, allerdings mit fließenden Grenzen zum Militärischen. Momentan jedoch verändert sich dies in Großbritannien grundlegend: Denn anstelle der UK Border Force, die dem Innenministerium untersteht und damit zivilen Charakter hat, soll in Kürze die Marine die Federführung bei der Bekämpfung der Migration über den Ärmelkanal übernehmen. Dies wäre das erste Mal, dass militärische Ressourcen nicht zur Unterstützung der zivilen Behörden eingesetzt werden, sondern diese umgekehrt innerhalb einer militärischen Kommandostruktur fungieren. Zwar ist noch unklar, wie dies en detail aussehen soll, doch wurde der Operation bereits ein Name gegeben: Operation Isotrope.
Ein weiterer Tod in Calais
[Mit einem Update vom 7. Februar 2022] Am heutigen 25. Januar 2022 starb in Calais erneut ein Exilierter. Bislang wurden keine Angaben über seine Identität, das Alter oder die Nationalität veröffentlicht. Bekannt ist lediglich, dass die Nationalpolizei gegen 6:45 Uhr eine leblose Person im Bereich der Calaiser Hafenautobahn entdeckte. Medienberichten zufolge konnte die Person von den Rettungskräften nicht reanimiert werden. Es wird vermutet, dass er von einem Fahrzeug erfasst wurde und infolge der Verletzungen starb. Es ist der zweite Todesfall eines Exilierten im Gebiet von Calais seit Jahresbeginn, nachdem bereits am 15. Januar ein junger Mann aus dem Sudan im Gewerbegebiet Transmarck beim Versuch, auf einen Lastwagen zu gelangen, getötet worden war (siehe hier).
Gestern hat der in den französischen Medien als rechtsextremer Polemiker beschriebene Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour in Calais eine halbstündige Pressekonferenz zum Thema Migration und Europa gegeben und sich anschließend mit dem Direktor des Hafens, Jean-Marc Puissesseau, sowie Vertretern einer Polizeigewerkschaft getroffen. An einem Aussichtspunkt auf einem ehemaligen Bunker griff er vor Journalisten den rechtsextremen Kampfbegriff des „Großen Austauschs“ auf, erklärte Calais zum „Symbol des fehlenden Schutzes für Europäer, Franzosen und der Einwohner von Calais“, die verunsichert seien angesichts von „Gewalt, Verbrechen, Schmutz, Elend und fallenden Immobilienpreisen“, und forderte die bereits in seinem Wahlprogramm formulierte Abschaffung des ius soli, der Familienzusammenführung sowie aller sozialen Rechte und staatlicher medizinischer Versorgung für Nicht-EU-Ausländer_innen. Als Replik auf den am gleichen Tag von Emmanuel Macron vor dem Europäischen Parlament gehaltenen Rede, warf er diesem vor, sein Europa sei „ohne Körper, ohne Kopf und ohne Seele“.
Ein Gericht in Brügge hat Mitglieder eines belgischen Schleuser-Rings wegen des Todes von 39 Vietnames*innen verurteilt. Der Prozess wirft ein Licht auf die EU-Hauptstadt als Zentrum des Menschenschmuggels Richtung Großbritannien.
Seit vergangenem Samstag (15. Januar) besetzen Aktivist_innen aus Solidarität mit den Exilierten den Platz vor dem Rathaus in Calais und machen mit Schildern und Transparenten auf ihre Forderungen aufmerksam, die an den basalen, bereits während des Hungerstreiks erhobenen Forderungskatalog erinnern.
Permanente Havarie
Der 24. November 2021, an dem 27 Passagiere eines Schlauchboots im Ärmelkanal ertranken, rückt in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr in den Hintergrund. Eine neue Tragödie solcher Dimension kann sich unterdessen jeden Tag ereignen.
Zu Beginn dieses Jahres berichtete The Times unter Berufung auf eine Quelle im britischen Innenministerium, dass die UK Border Force (UKBF) inzwischen bereit sei, Pushbacks an der Seegrenze zu Frankreich durchzuführen. Folgt man dem Bericht, so hätte es bereits an zwei Tagen im Dezember zu Pushbacks kommen können, wenn an diesen Tagen denn Überfahrten stattgefunden hätten. Innenministerin Priti Patel scheint fest entschlossen zu sein, möglichst rasch solche Operationen durchzuführen, obschon eine gerichtliche Entscheidung über ihre Zulässigkeit noch aussteht, eine erforderliche Vereinbarung mit Frankreich fehlt und sich die Gewerkschaft der Grenzbeamt_innen vehement dagegen ausspricht. Von Channel Rescue wurden nun Belege vorgelegt, die bestätigen, dass Pushbacks unmittelbar vorbereitet werden. Dabei zeichnet sich auch ab, auf welche Weise sie durchgeführt werden könnten.
Ein weiterer Tod in Transmarck
Wieder starb bei Calais ein junger Mann bei dem Versuch, sich auf einem Lastwagen nach Großbritannien zu verstecken. Soweit bisher bekannt ist, handelte es sich um den 18 Jahre alten Abdallah aus dem Sudan. Es ist der vierte Todesfall, der sich innerhalb weniger Monate im Gewerbegebiet Transmarck ereignet. Erst einen Tag vorher war ein weiterer Mann aus dem Sudan bei einer versuchten Bootspassage nach Großbritannien ertrunken (siehe hier). Die beiden Geflüchteten hatten in den Camps von Calais gelebt.
Interview mit Channel Rescue
English version below
Channel Rescue entstand 2020 angesichts der wachsenden Zahl von Menschen, die den Ärmelkanal per Boot überquerten. Voraussichtlich wird die britische Organisation ab diesem Jahr mit einem Rettungsschiff auf dem Ärmelkanal präsent sein. Es wäre das erste Schiff einer zivilgesellschaftliche Initiative für Geflüchtete an dieser neuen EU-Außengrenze überhaupt – ein Projekt, das aus unserer Sicht jede nur mögliche Unterstützung verdient. Wir haben mit Steven von Channel Rescue darüber gesprochen, wie sich die Situation an der Kanalroute momentan verändert. Das Interview wurde schriftlich geführt.