In der Politik gegenüber den Exilierten in Calais und der Region ist nach dem Ende des Hungerstreiks vor drei Wochen und des Schiffsunglücks mit mindestens 27 Toten vor gut zehn Tagen keinerlei Kurswechsel erkennbar. Der Einsatz des von Frontex bereitgestellten Aufklärungsflugzeugs scheint – bei aller Unsicherheit, die langfristige Strategie aus bisher zwei Einsätzen abzuleiten – vor allem der Symbolpolitik zu dienen.
Schlagwort: Channel crossings
Nach dem verheerenden Bootsunglück auf dem Ärmelkanal vor einer Woche dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen die politische Aufarbeitung in Frankreich und Großbritannien. Die von EU und Großbritannien als Reaktion jeweils auf den Weg gebrachten Maßnahmen bewegen sich im erwartbaren Rahmen und dürften kaum dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Der politische Druck aus der Zivilgesellschaft nimmt jedoch zu und zeigt erste Auswirkungen.
Der Rückzug einer britischen NGO reisst eine Lücke in die zivilgesellschaftlichen Strukturen in Calais – und spielt der repressiven Grenzpolitik in die Hände. Auslöser ist ausgerechnet ein Flugblatt, in dem Verhaltenshinweise und Notfallnummern für den Fall einer Havarie gegeben wurden.
Die britische Initiative Channel Rescue dokumentierte im September 2021 Trainings der Border Force für Pushbacks im Ärmelkanal (siehe hier). Tatsächlich durchgeführt wurden diese bislang, soweit bekannt, nicht. Am 24. November 2021 – dem Tag, an dem 27 Exilierte vor Calais ertranken – reichte Channel Rescue eine Klage gegen die britische Innenministerin Priti Patel mit dem Ziel ein, die Durchführung von Pushbacks zu verhindern. Finanziert wird die Klage durch Crowdfunding: Binnen weniger Tage sind bereits £ 25.000 der angestrebten £ 30.000 zusammengekommen. Neben Channel Rescue klagten noch zwei weitere Organisationen, nämlich Care4Calais und Freedom from Torture, gegen die Innenministerin, wobei die drei Klagen unterschiedliche rechtliche Ansatzpunkte wählen. Wir dokumentieren im Folgenden die Erklärung von Channel Rescue auf der Plattform cowdjustice. Interessierte, die zur Finanzierung beteiligen möchten, finden dort die nötigen Informationen.
Der Tod vor Calais (3)
Politischer Streit zwischen Frankreich und Großbritannien eskaliert
Die Regierungen in London und Paris hatten sich nach dem Tod von 27 Menschen zunächst bemüht, ihr Unstimmigkeiten in der Migrationspolitik in den Hintergrund zu stellen. Zwar gaben sich britische und französische Stellen gegenseitig die Schuld an dem Unglück, der britische Premierminister Boris Johnson und der französischen Präsidenten Emmanuel Macron waren sich nach Beratungen aber schnell einig, das verstärkte Anstrengungen unternommen werden müssten, um die Schleuser_innen zu stoppen. Dies fügt sich in die zu erwartende politische Rhetorik ein, Migration im Kontext der grenzüberschreitenden Kriminalität zu verhandeln, und ihr mit einer noch restriktiveren Fassung des Grenzregimes zu begegnen.
Der Tod vor Calais
Die Informationen sind noch lückenhaft. Klar ist aber, dass sich am heutigen 24. November 2021 die bislang schlimmste Havarie auf der Kanalroute ereignet hat. Mindestens 31 Geflüchtete, so hieß es bis zum späten Abend, ertranken nördlich von Calais, mindestens eine weitere Person gilt als vermisst. [Update: Während der Nacht korrigierten die Behörden die Zahl auf 27 Todesopfer.]Während unter den lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen in Calais Trauer und Wut herrschen, reiste Innenminister Gérald Darmanin nach Calais. Die Regierungschefs Großbritanniens und Frankreichs beriefen Krisensitzungen ein. Hier eine Zusammenfassung der aktuell vorliegenden Meldungen.
Anders als in den Vorjahren, wird die Kanalroute in diesem Herbst nicht weniger, sondern trotz riskanterer nautischer Bedingungen stärker frequentiert. Was bereits Anfang November zu beobachten war (siehe hier), hat sich nun bestätigt. Zum vierten Mal in diesem Monat haben an einem Tag zwischen 800 und 1.200 Migrant_innen den Ärmalkanal per Boot durchquert. Insgesamt stieg die Zahl der Bootspassagen seit Jahresbeginn auf knapp 27.000 Personen an.
Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Kanalroute im Herbst weniger stark frequentiert würde – auch und gerade wegen der größeren Risiken während dieser Jahreszeit. Stattdessen erreichten am 11. Novmber 2021 zum ersten Mal mehr als tausend Channel migrants an einem einzigen Tag die englische Küste: 1.185 Personen in 33 Booten. Erst am 4. November war mit 853 Personen in 25 Booten überraschend ein Tagesmaximum gemeldet worden. Nach den Todes- und Vermisstenfällen der vergangenen Wochen werden erneut drei Menschen nach einer Havarie vermisst. Die Passage des Kanals ist deutlich gefährlicher geworden.
[Update, 5. November, abends] Sowohl auf See, als auch auf dem Festland haben sich innerhalb von nur zwei Tagen mehrere Todesfälle ereignet. Mindestens drei Exilierte verloren bei verschiedenen Havarien und Unfällen das Leben, eine weitere Person ist vermisst und eine andere lebensgefährlich verletzt. Seit August sind im Kontext der kontinentaleuropäisch-britischen Migration mindestens sechs Menschen gestorben. Zählt man die vermutlich ertrunkenen Vermissten hinzu, deren exakte Zahl nicht bekannt ist, könnten es bis zu elf Todesopfer gegeben haben – fast alle innerhalb der vergangenen sechs Wochen. Währenddessen bargen französische Rettungsdienste so viele Exilierte aus Seenot wie selten zuvor, und noch nie erreichten so viele Channel migrants die englische Küste an einem einzigen Tag. Hier ein Überblick über die bislang bekannten Fakten.
Wie der BBC-Journalist Simon Jones meldet, ist die Zahl der erfolgreichen Bootspassagen nach Großbritannien in diesem Jahr auf über 20.000 Personen angestiegen, nachdem am heutigen 2. November 456 Personen in 15 Booten den Ärmelkanal überquert hatten. Die französischen Behörden hinderten weitere 343 Personen an der Überfahrt. Bereits während des gesamten Jahreslaufs war deutlich geworden, dass sich die Zahl der Passagen gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppeln würde. Im vergangenen Jahr hatten etwa 8.500 und ein Jahr zuvor etwas weniger als 2.000 Geflüchtete Großbritannien in Booten erreicht.