55 Migrant*innen geraten auf dem Ärmelkanal in Seenot. Das Wasser beginnt in das Boot einzudringen und die betroffenen Personen schicken ihren Aufenthaltsort an ein Team von Utopia56, welches von Land aus versucht Hilfe zu koordinieren. Solche Anrufe gehören nicht nur zur Realität von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich in der Region um Calais engagieren, sondern werden mit den steigenden Überfahrten zunehmend alltäglich. Dabei kompensiert die elementare Arbeit dieser NGOs oft für staatliche Passivität und Gleichgültigkeit.
Kategorie: Channel crossings & UK
Rede einer Besessenen
Seit dem 6. September 2022 amtiert die frühere Generalstaatsanwältin Suella Braverman als Innenministerin der Regierung Truss. Bereits während ihrer Kandidatur für den Vorsitz der Konservativen Partei hatte sie angekündigt, sie werde die Bootspassagen im Ärmelkanal stärker bekämpfen, das Abkommen mit Ruanda umsetzen und rechtliche Hindernisse ausräumen. In ihrer Grundsatzrede auf dem Parteitag der Tories in Birmingham am 4. Oktober 2022 machte sie nun erneut deutlich, dass die Bekämpfung der Kanalroute eines ihrer zentralen politischen Ziele ist. Wie genau, bleibt noch unklar. Aber während ihrer Amtszeit könnten Angriffe auf rechtstaatliche Normen zum Mittel der Wahl werden.
Die Bootspassagen nach Großbritannien sind nicht nur im realen Küsten- und Seegebiet ein Konfliktfeld, sondern auch im virtuellen Raum. Momentan investiert das britische Regierung in eine mehrsprachige Social Media-Kampagne, um potenzielle Migrant_innen abzuschrecken. Zugleich wurde bekannt, dass kommerzielle Schleuser_innen auf albanischsprachigen Sozial Media-Kanälen intensiv für Bootspassagen werben; zugleich nimmt der Anteil albanischer Exilierter an den Bootspassagieren zu. Konservative und rechtspopulistische Akteur_innen greifen das Phänomen auf, um die Bootspassagen mit organisierter Kriminalität gleichzusetzen und eine moral panic zu befeuern.
Zum Scheitern der Schnell-Abschiebungen nach Albanien
Wenn konservative Politiker_innen gegen die Bootspassagen im Ärmelkanal argumentieren, suggerieren sie gern, diese seien illegal. Rechtlich ist diese Behauptung unzutreffend. Vor einigen Tagen hat auch die britische Regierung eingeräumt, dass Bootspassagen von Asylbewerber_innen legal sind. Hintergrund dieses Eingeständnisses ist ein Versuch des britischen Innenministeriums, die Abschiebung albanischer Bootspassagier_innen zu beschleunigen, nachdem ihr Anteil an den Channel migrants in diesem Jahr zugenommen hat (siehe hier). Dieser Versuch ist nun weitgehend gescheitert.
Als das britische Verteidigungsministerium am 12. September 2022 die Ankunft von 19 small boats mit 601 Exilierten im britischen Hoheitsgebiet registrierte, erreichte die Anzahl der Channel crossings in diesem Jahr 28.592 und überstieg damit den Wert des gesamten Vorjahres. Drei Tage später stieg die Zahl auf knapp 30.000 Personen. Wie bereits in den Jahren seit 2018, hat sich Anzahl der geglückten Bootspassagen ein weiteres Mal gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt. Währenddessen hat mit Suella Braverman eine neue britische Innenministerin die Amtsgeschäfte aufgenommen, die ernsthaft eine Reduzierung der Überfahrten auf Null propagiert.
In wenigen Tagen, vielleicht auch nur in wenigen Stunden, werden so viele Menschen den Ärmelkanal seit Jahresbeginn in kleinen Booten passiert haben wie im gesamten Jahr 2021. Waren es damals rund 28.500 Personen, so sind es in diesem Jahr bereits knapp 27.500. Das Erreichen der jeweiligen Vorjahreszahl und die darin sichtbare Dymanik der Migration auf der Kanalroute sind im britischen Mediendiskurs seit einigen Jahren ein symbolbelades Ereignis. In diesem Jahr fällt es mit der Entscheidung über die Übernahme des Parteivoritzes der Konservativen Partei und damit der künftigen Regierungsgeschäfte durch Liz Truss zusammen – und mit dem Rücktritt von Innenministerin Priti Patel, die auf diese Weise vermutlich ihrer Entlassung durch Truss zuvorkam.
Über einen Rekordtag
„Spoke to two people in Calais who attempted to cross the Channel yesterday in what was the highest number of people to reach the UK by small boat. They are dejected it wasn’t them, but buoyed up by the news. Hopeful they’ll make it in the next few days, not at all deterred.“ Mit diesen Worten beschrieb die britische Journalistin Nicola Kelly ihre Eindrücke, nachdem am 22. August 2022 bei günstiger Witterung fast 1.300 Menschen die Passage des Ärmelkanals gelungen war.
Die Frequentierung der Kanalroute nimmt weiterhin stark zu. Nachdem das britische Verteidigungsministerium am gestrigen 13. August die Ankunft von 604 Personen in 14 Booten bestätigte, liegt die Gesamtzahl der Bootspassagier_innen seit Jahresbeginn nun über 20.000. Im vergangenen Jahr war diese Zahl erst Anfang November erreicht worden (siehe hier) und ein weiteres Jahr zuvor waren es während des gesamten Jahres weniger als zehntausend Personen gewesen. Die Ankündigungen der konservativen britischen Regierung, den Markt für kommerziell angebotene Bootspassagen durch immer existenziellere Maßnahmen gegen die Exilierten austrocknen zu wollen, erweisen sich erneut als Wunschdenken.
Die britische Boulevardpresse erlaubt momentan aufschlussreiche Einblicke, und zwar sowohl in Interna des britischen Grenzregimes, als auch in das konservative Campaigning zur Rettung des britisch-ruandischen Migrationsdeals. Nebenher macht ein Blick in die Boulevardpresse eine aktuelle Tendenz der Migration auf der Kanalroute sichtbar, nämlich eine verstärkte Präsenz albanischer Migrant_innen. Letzteres wird von konservativen Hardlinern skandalisiert, belegen die Albaner_innen doch scheinbar, dass die Channel crossings keine Fluchtmigration seien und der vehemente Protest linker, liberaler und kirchlicher Organisationen gegen den britisch-ruandischen Migrationsdeal auf Fakes basiere. Grundlage dieser Skandalisierung ist ein geleakter Report des britischen Militärs, das seit April 2022 für die Bekämpfung der kanalüberfreifenden Bootsmigration zuständig ist.
Nach der Rücktrittsankündigung von Boris Johnson als britischer Premierminister loten mehrere führende britische Verteidigungspolitiker das Ende des Einsatzes der Royal Navy zur Verhinderung von Kanalpassagen in kleinen Booten aus. Laut einem Beitrag des Guardian vom 9. Juli sind sie angesichts wachsender globaler Sicherheitsbedrohungen frustriert darüber, Ressourcen für einen Plan aufzuwenden, der aus ihrer Sicht bereits gescheitert ist: seit der Übernahme der Führung durch die Marine Mitte April, seien doppelt so viele Überfahrten registriert worden wie in den drei Monaten davor.