Neun Boote mit 209 Geflüchteten an Bord erreichten in der Nacht vom 28. auf den 29. April 2021 von Frankreich aus Großbritannien. Es war die größte Anzahl erfolgreicher Channel crossings seit Jahresbeginn. Insgesamt haben in diesem Jahr nach Angaben der BBC bereits „mehr als 1.850“ Migrant_innen den Ärmelkanal in kleinen Booten passiert. Das rechte Portal Migration Watch spricht sogar von 2.004 Personen und schlägt die üblichen alarmistischen Töne an. Wieviele Migrant_innen genau es auch geschafft haben mögen – die schon im Februar und März sichtbare stärkere Frequentierung der Kanalroute (siehe hier und hier) hält an. Zum gleichen Zeitpunkt des vergangenen Jahres war weniger als tausend und im gesamten Jahr 2019 knapp zweitausend Personen die Bootspassage gelungen.
Schlagwort: Calais
Eine filmische Dokumentation
Utopia 56, gegründet 2016 angesichts der Situation Geflüchteter in Calais, wurde in den vergangenen Jahren zu einer Hilfsorganisationen für Geflüchtete in Frankreich. Mit wenigen Mitteln organisieren sie Unterkünfte, die Ausgabe von Zelten und Kleidung und greifen in Notsituationen ein, etwa um den Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Im vergangenen Winter hat der Journalist Ulysse Cailloux das Team von Utopia 56 nach Calais und Grande Synthe begleitet. Vom 26. bis 28. Dezember 2020 filmte er das tägliche Leben der jungen Aktivist_innen.
Serie neuer Räumungen in Calais

Am Nachmittag des 6. April 2021 fand in Calais eine Serie neuer Räumungen statt. Sie richtete sich gegen insgesamt sechs Camps, war mit der Wegnahme von persönlichem Eigentum im großen Umfang verbunden und unterschied sich von den „normalen“ morgendlichen Polizeioperationen im 48-Stunden Turnus. Die Räumungen geschahen unangekündigt und überraschten die Geflüchteten, die zwar vor Ort bleiben konnten, aber kaum eine Möglichkeit hatten, ihre Sachen in Sicherheit zu bringen. Am heutigen 9. April folgten weitere Räumungen, die sich gegen die verbliebenen Camps unter den Quaibrücken in der Calaiser Innenstadt richteten. Wir werden auf die Entwicklung noch genauer eingehen und dokumentieren zunächst eine Presseerklärung der Human Rights Observers zu den Ereignissen am 6. April.

In Calais und Grande-Synthe wurde im vergangenen Jahr mehr als 1.000 mal ein migrantisches Camp geräumt, und nahezu bei jeder dieser Operationen wurden Schutzgüter und persönlicher Besitz der Geflüchteten beschlagnahmt. Erwartungsgemäß setzt sich diese Politik der gezielten Prekarisierung auch in diesem Jahr fort. Allein im Januar und Februar wurden in Calais und Grande-Synthe 206 Räumungen dokumentiert, in deren Verlauf mindestens 1.318 Zelte und 587 Schlafsäcke beschlagnahmt (d.h. in vielen Fällen: zerstört) wurden. Der Umfang der Beschlagnahmungen liegt damit um das Dreifache höher als vor einem Jahr. Und es zeichnet sich ab, dass auch die in Nordfrankreich seit Anfang März virulente dritte Welle der Corona-Pandemie nicht zu einem Aussetzen dieser Operationen führen wird.
Die französische Polizei hat nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Boulogne-sur-Mer interne Ermittlungen wegen des Einsatzes von Gummigeschossen durch die Polizeieinheit CRS am 11. November 2020 eingeleitet; durchgeführt werden die Ermittlungen von der zuständigen Generalinspektion der Nationalpolizei IGPN (Inspection générale de la police nationale). Ausgelöst wurden die Ermittlungen durch die am 18. Januar erstatte Anzeige eines 45jährigen Eritreers, der während des Polizeieinsatzes an einem Camp in Calais schwer verletzt worden war (siehe hier). Er hatte unter anderem Knochenbrüche des Gesichts, der Augenhöhlen und der Zähne erlitten und hat sich aufgrund der Verletzungen rund zwei Monate in stationärer Behandlung befunden.
In Calais bestand seit Dezember 2020 la Crèche (die Krippe), eine kirchliche Nachtunterkunft für rund 15 minderjährige und schutzbedürftige Migrant_innen (siehe hier). Die konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart ließ die Einrichtung schließen – ausgerechnet in den letzten Tagen der Kälteperiode im Februar, und ausgerechnet unter Verweis auf die Sicherheit der Bewohner_innen. Daraufhin fordern prominente Vertreter_innen der katholischen Kirche und der französischen Caritas (Secours Catholique) nun einen Stopp der Räumungen und Verhandlungen über eine grundlegend andere Migrationspolitik.
Räumungen in Virval und am Krankenhaus
Am gestrigen 25. Februar 2021 führte die Präfektur im Stadtteil Vivral und am Krankenhauses erneut sogenannte mise à l’abri-Operationen durch. Es handelt sich um vermeintlich humanitäre Räumungen, in deren Verlauf die Bewohner_innen der betroffenen Camps nominell freiwillig, oftmals aber gegen ihren Willen, in Zentren (CAES) außerhalb von Calais gebracht werden. Während der aktuellen Räumungen wurden mehr als hundert Personen in diese Einrichtungen transportiert und mehr als 20 festgenommen.
Französischer Staatsrat verwirft Klage wegen Behinderung der Berichterstattung
Am 3. Februar 2021 haben zwei Journalist.innen, die nationale Journalistengewerkschaft und die Organisation Utopia 56 vor dem französischen Staatsrat eine juristische Niederlage erlitten. Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung, in der der Staatsrat in etwa eine Rolle wie das deutsche Bundesverfassungsgericht einnahm, war im Wesentlichen die Frage, ob die Polizei den Journalist.innen während der regelmäßigen Räumungen den Zugang zu den Camps verweigern und damit eine Berichterstattung behindern darf, oder ob damit eine grundrechtswidrige Einschränkung der Pressefreiheit einhergeht. Das französische Innenministerium als Streitgegner legte in diesem Verfahren eine überraschende Rechtfertigung des polizeilichen Absperrgürtels vor; der Staatsrat legte in seiner Urteilsbegründung hohe Hürden an, um eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit als erfüllt anzusehen.

Die heftige Frostperiode, über die wir zuletzt berichteten, ist vorüber. Die Behörden haben den vorübergehend aktivierten plan Grand froid (Großer Frost-Plan) – ein staatliches Programm zur Bereitstellung von Notunterkünften bei Frost – wieder außer Kraft gesetzt. Während dieser kritischen Phase besuchte der Calaiser Blog Passeurs d’hospitalités zwei lokale Initiativen, die Geflüchtete jenseits der behördlichen Maßnahmen unterstützen. Beide Initiativen haben einen kirchlichen Hintergrund und stehen medial eher im Schatten größerer und säkularer Akteure wie Auberge des migrants, Utopia 56 oder Care4Calais. Wir veröffentlichen im Folgenden eine Übersetzung des am 14. Februar publizierten Berichts, der exemplarisch die Möchlichkeit einer menschenwürdigen Beherbergung auf zivilgesellschaftlicher Basis aufzeigt:
In eigener Sache
Ein Beitrag für das Projekt „Migration Control“
Im Jahr 2015 startete auf Initiative der taz das Projekt Migration Control, das sich kritisch der Vorverlagerung der EU-Außengrenzen nach Süden widmet. Inzwischen wird das Projekt von einem Netzwerk antirassistischer und wissenschaftlicher Initiativen unter Federführung der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration weitergeführt. Unter dem Titel Calais – Großbritanniens externalisierte Grenze haben wir dort nun einen Beitrag veröffentlicht, der u.a. auf diesem Blog aufbaut. Unser Kerngedanke ist es, „Calais“ – verstanden eine komplexe Migrations- und Grenzsituation in einem weit über die Stadt hinausgreifenden Raum – als einen vergleichbaren Prozess der Vorverlagerung einer Grenze zu untersuchen. Beginnend um die Jahrtausendwende, behandeln wir zunächst die Entwicklung des Jungle von Calais zu einer informellen Stadt in den Jahren 2015/15 und die (nicht erst seitdem) dominante Politik der „hostile environment“, also der Erzeugung einer feindseligen und unwirtlichen Umwelt für die in Nordfrankreich ausharrenden Migrant_innen. Vor diesem Hintergrund geht es um die folgenreiche Etablierung einer maritimen Migrationsroute zur Passage des Ärmelkanals, die anhaltende Sekuritisierung der Kanalgrenze und die Bedeutung des Brexit für das zu Grunde liegende Grenzregime. Wir danken der Fotografin Julia Druelle und dem Journalisten Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, die den Beitrag durch ihre Bilder bereichert haben.
English version: https://migration-control.info/en/wiki/calais/