Erneut ist in der Nähe von Calais ein junger Sudaner ums Leben gekommen. Wie lokale Medien berichten, wurde er am Morgen des 10. März 2022 auf der Küstenautobahn A 16 bei Nouvelle-Église, einer kleinen Gemeinde westlich von Calais, von einem Auto erfasst und tödlich verletzt. Seine Identität scheint bislang unklar zu sein. Doch gaben die Behörden inzwischen bekannt, dass es sich um einen Mann in den Zwanzigerjahren seines Lebens handelt, der erst wenige Tage zuvor allein nach Frankreich gekommen sei. Am Tag nach seinem Tod veranstalteten lokale Organisationen in Calais eine Gedenkfeier und prangerten erneut die Gewaltförmigkeit des britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregimes an. Es handelt sich um den 349. dokumentierten Todesfall in diesem europäischen Grenzraum seit 1999. Seit Herbst vergangenen Jahres sind in/bei Calais bereits mehrere Jugendliche und junge Männer meist sudanischer Nationalität getötet worden, als sie versuchten, auf fahrende Lastwagen aufzuspringen, oder weil sie von Fahrzeugen und Zügen erfasst wurden (siehe hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier).
Schlagwort: Calais
Für Abubaker
Die Familie und Freund_innen von Abubaker, der am 28. Februar in der Nähe des Camps Old Lidl an der Grenze Calais‘ zu seiner Nachbargemeinde Marck von einem Zug erfasst und tödlich verletzt worden ist, haben sich mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt, die wir hier in eigener Übersetzung veröffentlichen.
Zweiunddreißig Tage lang protestierten abwechselnd rund 50 Menschen vor dem Rathaus von Calais, um die Forderungen sichtbar zu machen, die bereits während des Hungerstreiks in der Kirche Saint-Pierre im Oktober und November 2021 aufgestellt worden waren (siehe hier). Im Kern ging und geht es um ein Ende der permanenten Räumungen zumindest während des Winters, um ein Ende der massiven Beschlagnahmungen und um repressionsfreie Arbeitsbedingungen für die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die einen Großteil der elementaren Versorgung der Camps leisten. Der Protest vor dem Rathaus stand in der Nachfolge des Hungerstreiks und wird, wie das Kollektiv Faim aux frontières mitteilte, nicht die letzte politische Intervention bleiben. Allerdings hat der Protest nicht zu einer Revision der Zermürbungstaktik gegenüber den Exilierten geführt. Die dokumentarische Arbeit der Human Rights Observers (HRO) in diesem Winter zeigt, dass elementare Recht auf ein menschenwürdiges Leben, insbesondere auf Wohnung und Eigentum, weiterhin massiv und systematisch verletzt werden.
„Gute Nachrichten: Gestern Morgen kam ein Gerichtsvollzieher an dem Haus in der Rue F. Sauvage vorbei, stellte die Personalien der Bewohner_innen fest und nahm die Beweise für die Besetzung mit, die ihm übergeben wurden!“ Mit dieser Mitteilung gab das Kollektiv Calais Logement pour Tous.tes am 19. Februar 2022 einen wichtigen Etappenerfolg seines Vorhabens bekannt, einen offenen Raum für Geflüchtete und Aktivist_innen in Calais zu schaffen. „Wir sind jetzt vor einer Räumung im Morgengrauen mit einem Hubschrauber sicher, und das normale Verfahren wird eingeleitet.“
Räumung des besetzten Hochhauses
[Updated, 18. Februar] Der am 4. Februar 2022 besetzte Wohnblock an der Rue d’Ajaccio (siehe hier) im Calaiser Stadtteil Fort-Nieulay wurde am heutigen Tag geräumt. Lokalen Medien zufolge hatte das zuständige Gericht in Boulogne-sur-Mer am Vortag einen Räumungstitel unterzeichnet. Am frühen Morgen räumte die Polizei, darunter CRS und die Spezialeinheit RAID der Police nationale, dann das Gebäude: Ein Video zeigt, wie sich vier RAID-Polizisten von einem Hubschrauber auf das Flachdach des Hauses abseilen und von dort aus Explosivkörper im Inneren des Gebäudes zünden. Kurz darauf kommt es zu einem CS-Gas-Einsatz vor dem Gebäude, als die Besetzer_innen es verlassen und einige Unterstützer_innen, die sich auf dem Vorplatz versammelt haben, zu ihnen wollen. Diese öffentliche Präsenz habe, so erklärten die Besetzer_innen später in einem Tweet, verhindert, dass Personalienfeststellungen durchgeführt werden konnten. Lediglich eine Person sei zu diesem Zweck festgenommen worden, aber inzwischen wieder frei. Vier andere Personen befinden sich nach einer Festnahme am Vortag in Polizeigewahrsam.
Der bislang letzten Menschen, der infolge der britisch-französischen Grenzpolitik starb, war Mohamad Abdallah Youssef aus dem Sudan (siehe hier). Am 4. Februar 2022 setzten Freunde und Weggefährten ihn auf dem Nordfriedhof von Calais bei. Zwei Tage später demonstrierten rund 500 Menschen in Calais zum Gedenken an die Toten der Grenze. „Ich habe ihn wegen der geschlossenen Grenze verloren,“ erklärte Mohamads Cousin auf der Kundgebung. Die Demonstration war Teil des internationalen Gedenk- und Protesttags CommemorAction bzw. Commémoraction in Erinnerung an die Tötung von mindestens 15 Exilierten durch die spanische Guardia Civil am 6. Februar 2014 (siehe hier). Wir dokumentieren den Protest anhand einer Bilderserie der Calaiser Fotografin Julia Druelle.
Marsch für die Toten der Grenze
Als am 6. Februar 2014 die spanische Guardia Civil gewaltsam gegen den Versuch einiger hundert Geflüchteter vorging, die stark gesicherte Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Ceuta zu überqueren, wurden 15 Menschen getötet, weitere blieben vermisst. Sechs Jahre nach diesem Gewaltakt, den sie als Massaker von Tarajal erinnerten, trafen sich Angehörige der Opfer und der Vermissten, politische und künstlerische Aktivist_innen im marokkanischen Oujda zum Gedenken und zum Protest, kurz: CommemorAction. Daraus bildet sich seitdem eine internationale Bewegung, die den 6. Februar als „Tag des Kampfes gegen das Regime des Todes an den Grenzen“ begreift und mit der Forderung nach „Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung für die Migrationsopfer und ihre Familien“ verbindet. An zahlreichen Orten werden an diesem Tagen dezentrale Aktionen stattfinden, die sowohl Gedenken als auch Protest sein sollen. Einer dieser Orte ist Calais. Wir dokumentieren im Folgenden den Aufruf zur Teilnahme.
Seit vergangenem Samstag (15. Januar) besetzen Aktivist_innen aus Solidarität mit den Exilierten den Platz vor dem Rathaus in Calais und machen mit Schildern und Transparenten auf ihre Forderungen aufmerksam, die an den basalen, bereits während des Hungerstreiks erhobenen Forderungskatalog erinnern.
Durch die tägliche Präsenz von Human Rights Obervers (HRO) sind wir in der Lage, nicht nur das momentane Ausmaß der Räumungspolitik in Calais und Grande-Synthe zu verfolgen. Das Datenmaterial ermöglicht es auch, Entwicklungen über längere Zeiträume zu analysieren. Dabei wird einmal mehr sichtbar, mit welch hohem logistischen Aufwand die elenden Lebensverhältnisse der Exilierten hergestellt werden und welch eine zentrale Rolle der Ressourcenentzug dabei spielt. Konkret liegt die Zahl der dokumentierten Räumungen allein in Calais über 1.200. Bei diesen Aktionen wurden in Calais und Grande-Synthe rund 10.000 Zelte und Schutzplanen, über 3.000 Schlafsäcke und Decken und über 600 Rucksäcke bzw. Taschen beschlagnahmt. Dies ist das Zwei- bis Dreifache der Menge von 2020 nud ein Vielfaches von 2019 (siehe hier und hier). Doch diese Verschärfung der Lage ist nicht alles: Auch der Solidaritäts-Hungerstreik dreier Aktivist_innen im vergangenen Herbst scheint in den Datenreihen eine Spur hinterlassen haben.
Wenn man nach langer, zu langer Pause wieder an den Ärmelkanal kommt, ist das eine seltsame Ambivalenz. Einerseits hat sich die Geografie verändert, man bewegt sich nicht mehr selbstverständlich, sondern muss sich die Situation erst wieder neu erschließen. Gerade dieser Abstand aber, aus dem man sich dann erneut heranzoomt an den Alltag der repressiven Elendsverwaltung, aus Räumungen und Schikanen, bietet die Möglichkeit einer Aktualisierung der eigenen Analyse. Im Folgenden einige Punkte, die sich aus der zurückliegenden Woche in Calais und Grande-Synthe ergeben.