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Calais Solidarität

Politikwandel und Räumungs-Moratorium: Eine Intervention der Kirche

In Calais bestand seit Dezember 2020 la Crèche (die Krippe), eine kirchliche Nachtunterkunft für rund 15 minderjährige und schutzbedürftige Migrant_innen (siehe hier). Die konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart ließ die Einrichtung schließen – ausgerechnet in den letzten Tagen der Kälteperiode im Februar, und ausgerechnet unter Verweis auf die Sicherheit der Bewohner_innen. Daraufhin fordern prominente Vertreter_innen der katholischen Kirche und der französischen Caritas (Secours Catholique) nun einen Stopp der Räumungen und Verhandlungen über eine grundlegend andere Migrationspolitik.

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Calais

Räumungen in Virval und am Krankenhaus

Am gestrigen 25. Februar 2021 führte die Präfektur im Stadtteil Vivral und am Krankenhauses erneut sogenannte mise à l’abri-Operationen durch. Es handelt sich um vermeintlich humanitäre Räumungen, in deren Verlauf die Bewohner_innen der betroffenen Camps nominell freiwillig, oftmals aber gegen ihren Willen, in Zentren (CAES) außerhalb von Calais gebracht werden. Während der aktuellen Räumungen wurden mehr als hundert Personen in diese Einrichtungen transportiert und mehr als 20 festgenommen.

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Vertreibung mit Privatsphäre

Französischer Staatsrat verwirft Klage wegen Behinderung der Berichterstattung

Am 3. Februar 2021 haben zwei Journalist.innen, die nationale Journalistengewerkschaft und die Organisation Utopia 56 vor dem französischen Staatsrat eine juristische Niederlage erlitten. Gegenstand der juristischen Auseinandersetzung, in der der Staatsrat in etwa eine Rolle wie das deutsche Bundesverfassungsgericht einnahm, war im Wesentlichen die Frage, ob die Polizei den Journalist.innen während der regelmäßigen Räumungen den Zugang zu den Camps verweigern und damit eine Berichterstattung behindern darf, oder ob damit eine grundrechtswidrige Einschränkung der Pressefreiheit einhergeht. Das französische Innenministerium als Streitgegner legte in diesem Verfahren eine überraschende Rechtfertigung des polizeilichen Absperrgürtels vor; der Staatsrat legte in seiner Urteilsbegründung hohe Hürden an, um eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit als erfüllt anzusehen. 

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Calais Solidarität

Zivilgesellschaftliche Beherbergungen in der Frostperiode

Beherbergung in der „Krippe“, Calais. (Foto: Julia Druelle)

Die heftige Frostperiode, über die wir zuletzt berichteten, ist vorüber. Die Behörden haben den vorübergehend aktivierten plan Grand froid (Großer Frost-Plan) – ein staatliches Programm zur Bereitstellung von Notunterkünften bei Frost – wieder außer Kraft gesetzt. Während dieser kritischen Phase besuchte der Calaiser Blog Passeurs d’hospitalités zwei lokale Initiativen, die Geflüchtete jenseits der behördlichen Maßnahmen unterstützen. Beide Initiativen haben einen kirchlichen Hintergrund und stehen medial eher im Schatten größerer und säkularer Akteure wie Auberge des migrants, Utopia 56 oder Care4Calais. Wir veröffentlichen im Folgenden eine Übersetzung des am 14. Februar publizierten Berichts, der exemplarisch die Möchlichkeit einer menschenwürdigen Beherbergung auf zivilgesellschaftlicher Basis aufzeigt:

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Allgemein

In eigener Sache

Ein Beitrag für das Projekt „Migration Control“

Im Jahr 2015 startete auf Initiative der taz das Projekt Migration Control, das sich kritisch der Vorverlagerung der EU-Außengrenzen nach Süden widmet. Inzwischen wird das Projekt von einem Netzwerk antirassistischer und wissenschaftlicher Initiativen unter Federführung der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration weitergeführt. Unter dem Titel Calais – Großbritanniens externalisierte Grenze haben wir dort nun einen Beitrag veröffentlicht, der u.a. auf diesem Blog aufbaut. Unser Kerngedanke ist es, „Calais“ – verstanden eine komplexe Migrations- und Grenzsituation in einem weit über die Stadt hinausgreifenden Raum – als einen vergleichbaren Prozess der Vorverlagerung einer Grenze zu untersuchen. Beginnend um die Jahrtausendwende, behandeln wir zunächst die Entwicklung des Jungle von Calais zu einer informellen Stadt in den Jahren 2015/15 und die (nicht erst seitdem) dominante Politik der „hostile environment“, also der Erzeugung einer feindseligen und unwirtlichen Umwelt für die in Nordfrankreich ausharrenden Migrant_innen. Vor diesem Hintergrund geht es um die folgenreiche Etablierung einer maritimen Migrationsroute zur Passage des Ärmelkanals, die anhaltende Sekuritisierung der Kanalgrenze und die Bedeutung des Brexit für das zu Grunde liegende Grenzregime. Wir danken der Fotografin Julia Druelle und dem Journalisten Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, die den Beitrag durch ihre Bilder bereichert haben.

English version: https://migration-control.info/en/wiki/calais/

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Frost

Über eine lebensbedrohliche Lage und ihren Kontext

Verschneites Zelt in einem behelfsmäßigen Camp von Geflüchteten im nordfranzösischen Grande-Synthe, Februar 2021 (Foto: Julia Durelle)

Das übliche Winterwetter in Nordfrankreich ist nasskalt, mit Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt, kaltem Wind und aufgeweichten Böden. Dies macht das Leben in einem Camp schwer, zermürbend und ungesund. Frostperioden hingegen sind selten. In der vergangenen Woche aber frierte es kontinuierlich. Die Temperaturen fielen auf minus sechs bis sieben Grad, gefühlt lagen sie noch darunter. Die Behörden aktivierten humanitäre Notfallpläne für die in den Camps lebenden Menschen. Natürlich ist dies zu begrüßen. Aber dennoch zeigt sich nun drastisch, wie unzureichend solche Maßnahmen sind, und mehr noch: dass auch ihnen die Logik eingeschrieben ist, die Lebensbedingungen auch dann abschreckend zu erhalten, wenn es das Schlimmste zu verhindern gilt.

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Calais

Räumungen als Enteignung

Eine Recherche in Calais

Einsatzfahrzeuge des Konvoi. (Foto: Th. Müller)

Im Januar 2021 hatten wir Gelegenheit, die Calaiser Initiative Human Rights Observers (HRO) einen Tag lang zu begleiten. Gemeinsam folgten wir dem Polizeikonvoi, der an diesem Tag insgesamt sieben Camps räumte, und danach fuhren wir zu einem Ort, an den ein Teil der dabei beschlagnahmten Gegenstände gebracht wird. Was wir beobachten, war der Normalfall: Nichts an diesem Tag war etwas anderes als Routine. Es kam, soweit wir sehen konnten, nicht zu physischer Gewalt. Und oft hatten die betroffenen Menschen ihre Sachen bereits vor der Polizei in Sicherheit gebracht – sie hatten sich sozusagen selbst geräumt. Manchmal, so erzählten die beiden Freiwilligen der HRO, würden sie Journalist_innen mitnehmen. Es komme vor, dass diese eine falsche Vorstellung von den Räumungen hätten, auf spektakuläre Bilder hofften und enttäuscht seien, wenn nichts eskaliere. Aber es ist offentlichtlich, dass gerade das Routinierte den Kern der Gewalt ausmacht. Diese Normalität wollen wir daher möglichst präzise beschreiben.

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Calais

Leichenfund im Fährhafen

Zum zweiten Mal innerhalb eines knappen Jahres ist im Fährhafen von Calais die Leiche eines Menschen gefunden worden. Der Zeitung La voix du Nord zufolge fanden Arbeiter am 1. Februar 2021 einen im Wasser schwimmenden Körper, der sich bereits in einem „fortgeschrittenen Stadium der Verwesung“ befunden habe. Nach Angaben des Staatsanwalts Pascal Marconville sei der Leichnam außerdem in der Höhe des Rumpfs fast durchtrennt gewesen, eventuell durch eine Schiffsschraube. Eine Autopsie soll nun Rückschlüsse auf die Todesursache und die Identität erbringen. Von den lokal tätigen Vereinigungen der Geflüchtetenhilfe sei keine Person als vermisst gemeldet. Gleichwohl gehe die Staatsanwaltschaft davon aus, dass es sich sehr wahrscheinlich um einen Migranten handelt. Sollte sich dies bestätigen, so wäre es der 298. dokumentierte Todesfäll im Zusammenhang mit dem britisch-kontinentaleuropäischen Grenzregime.

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Calais

Massive Räumung im Zentrum von Calais

Räumung in der Calaiser Innenstadt, 19. Januar 2021. Im Hintergrund das Rathaus, von wo aus die Operation veranlasst wurde. (Foto: Cabane Juridique)

In der Calaiser Innenstadt hat am gestrigen 19. Januar 2021 eine der größten Räumungsoperationen der letzten Moante stattgefunden. Sie richtete sich gegen Migrant_innen, die ihre Zelte unter Brücken an den Quais in der Nähe des Rathauses aufgestellt hatten. Die Räumung war erwartet worden, nachdem am 16. Dezember 2020 eine entsprechende Verfügung das Stadt Calais ausgehängt worden war und das Verwaltungsgericht in Lille die Räumung am 24. Dezember erlaubt hatte (siehe hier). Gleichwohl bezeichnen Beobachter_innen den Umfang der Operation als außergewöhnlich.

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Calais

Ein ruhiger Brexit, weniger Staus – und neue Zäune

Hochsicherheitszäune in der Nähe des Kanaltunnels im Jahr 2016. (Foto: Th. Müller)

Viel war während der vergangenen Jahre darüber spekuliert worden, wie sich der Brexit auf das Migrationsgeschehen auswirken werde. Drei Fragen standen und stehen dabei im Mittelpunkt: Wie wird sich die neue Situation auf das Grenzregime und die Migrationspfade auswirken? Wie wird Großbritannien nach dem Austritt aus dem Dublin-System mit denen umgehen, die in Fahrzeugen oder Booten auf die Insel gelangen? Und drittens: Was wird das angeblich radikal erneuerte Asylsystem beinhalten, das die Regierung Johnson im vergangenen Jahr – begleitet von einer beispiellosen Hysterie aufgrund der Bootsmigrant_innen – für die Post-Brexit-Phase ankündigte? All dies wird uns in künftigen Beiträgen noch beschäftigen. In Calais selbst wird nun eine indirekte Auswirkung des Brexit sichtbar: Die Legitimation weiterer Metallgitterzäune am heute schon festungsartig gesicherten Kanaltunnel.