Nach den massiven Räumungen ab dem 10. Juli (siehe hier) versuchen die betroffenen Menschen, einen Platz zu finden, an dem sie sich aufhalten und schlafen können. Ihre Situation bleibt in höchstem Maße prekär.
Rekonstruktion einer Räumungswoche
Die Räumungswelle im Kontext des symbolträchtigen Besuchs des neuen französischen Innenministers Gérald Darmanin in Calais am 12. Juli markiert eine Zäsur. Sie unterschied sich in ihrem Umfang und in ihrer Heftigkeit von vorausgegangenen Polizeiaktionen dieser Art und wiederholte im Kleinen die medienwirksam durchgeführte Räumung des bislang größten Calaiser Jungle im Oktober 2016. Daher möchten wir das Geschehen zwischen den Räumungen in der Zone Industrielle des Dunes am 10./11. Juli und des daraufhin in den Fokus gerückten Calypso-Camps am 17. Juli anhand der lokalen Berichterstattung sowie der Schilderungen zivilgesellschaftliche Initiativen rekonstruieren. Unserer Rekonstruktion liegen (noch) keine eigenen Recherchen vor Ort zu Grunde; sie ist daher als vorläufig anzusehen.
Angriff mit dem Auto?
Am Morgen des 12. Juli 2020 wurde junger Migrant iranischer Herkunft in der Innenstadt von Calais mit einem Auto angefahren und verletzt. Der Vorfall ereignete sich wenige Stunden vor dem Besuch des französische Innenministers und seiner britischen Amtskollegin, dem eine Räumungswelle in den Camps vorausgegangen war (siehe hier). Wie inzwischen bekannt wurde, hat die zuständige Staatsanwaltschaft nun Ermittlungen gegen den Fahrer aufgenommen, nachdem sich Hinweise auf ein gezielten Angriff ergeben haben.
Grenzpolitische Bühne
Die Räumungen, der Ministerbesuch und eine französisch-britische Vereinbarung
Besuche französischer Innenminister nach erfolgter Räumung von Camps sind ein wiederkehrendes Motiv in der Geschichte der Calaiser Migration. Auch die Räumungswelle des 10. und 11. Juli, die von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen als die heftigste und brutalste seit Jahren beschrieben wurde (siehe hier und hier), hat eine solche Bühne geschaffen, auf der nationale Politiker_innen ihre Handlungsmacht demonstrieren und ihre lokalen Kolleg_innen ihre Forderungen artikulieren konnten: Am 12. Juli 2020 besuchte der neue französische Innenminister Gérald Darmanin Calais. Er traf dort auch mit seiner britischen Amtskollegin Priti Patel zusammen. Beide schlossen ein Abkommen zur Schaffung einer grenzpolizeilichen Nachrichteneinheit. Gleichzeitig überschlugen sich die Ereignisse.
Räumungen gehen weiter
Seit der Räumung am Freitag (siehe hier) überschlagen sich die Ereignisse in Calais.
Laut einer Mitteilung von Care4Calais sind diese am Samstag weitergegangen. Die NGO berichtet von gewalttätigen Übergriffen, Tränengaseinsatz und von in Brand gesetzten Zelten.
Des Weiteren kündigt die regionale Zeitung La Voix du Nord für den jetzigen Sonntag einen Besuch des neuen französischen Innenministers Gérald Darmanin in Calais an. Über das detaillierte Programm des Besuchs ist noch nichts bekannt.
Wir dokumentieren im Folgenden die Mitteilung von Care4Calais in voller Länge:
„Größte Räumung seit 2016“
Wie lokale Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen berichten, haben in Calais heute Räumungen stattgefunden, bei denen offenbar zwei Camps zerstört und etwa 500 Bewohner_innen in Zentren außerhalb der Grenzregion gebracht wurden. Folgt man einem Beitrag der Lokalzeitung La Voix du Nord, so waren ein eritreisches Camps nahe der Route de Gravelines im Bereich des Jungle sowie ein weiteres Camp im Calaiser Stadtteil Mi-Voix, der etwas südlich davon gelegen ist, betroffen. Anscheinend waren die Räumungen von einem Großaufgebot der Polizei, Abriegelungen auch für die Presse, mehreren Festnahmen, chaotischen Situationen und Auseinandersetzungen begleitet. Die Zeitung wertet die Räumungen als die größten seit 2016. Gemeint ist damit die vollständige Auflösung der zeitweise von 10.000 Menschen besiedelten Hütten-, Zelt- und Containerstadt, die damals international zum Inbegriff des Jungle of Calais geworden war. Weitere Räumungen gab es offenbar auch in Grande-Synthe bei Dunkerque.
Mehr MigrantInnen als je zuvor haben in der ersten Hälfte des Jahres den Ärmelkanal per Boot überquert – ungeachtet britisch-französischer Abkommen dies zu verhindern. Während populistische Scharfmacher und besorgte Patrioten für mehr Abschottung trommeln, hat das britische Home Office begonnen einen Plan umzusetzen um Bootsflüchtlinge zurück nach Frankreich zu schicken. Viel von ihm ist nicht bekannt. Die Spurensuche beginnt mit einem rätselhaften Namen. Zweiter Teil.
Mehr MigrantInnen als je zuvor haben in der ersten Hälfte des Jahres den Ärmelkanal per Boot überquert – ungeachtet britisch-französischer Abkommen, die genau dies verhindern sollen. Während populistische Scharfmacher und besorgte Patrioten für mehr Abschottung trommeln, hat das britische Home Office begonnen, einen Plan umzusetzen, um Bootsflüchtlinge zurück nach Frankreich zu schicken. Viel von ihm ist nicht bekannt. Die Spurensuche beginnt mit einem rätselhaften Namen. Erster Teil.
Während sich die Kanal-Überquerung von Nordfrankreich aus immer mehr auf Boote verlagert hat, bleiben in Belgien LKW in der Regel das Transportmittel. An der Küste gab es in den letzten Wochen allerdings einige Vorfälle mit Booten, und zu Beginn des Sommers rüstet die Polizei in der Provinz Westflandern auf. Zugleich wird das Hinterland logistisch immer wichtiger. Ein Überblick.
Mehr Ankünfte, anhaltende Prekarität
Einem Bericht der Lokalzeitung La Voix du Nord vom 26. Juni 2020 zufolge ist die Anzahl der im Jungle und den übrigen Camps von Calais lebenden Geflüchteten seit dem Ende des Confinement (französische Ausgangsbeschränkungen) stark gestiegen. Bezugnehmend auf die NGO Utopia 56 könne aktuell von 1.000 bis 1.200 Migrant_innen ausgegangen werden. Die Lebensbedingungen der Menschen und die hygienischen Zustände seien nach wie vor sehr schlecht. Neben dem Hauptsiedlungsplatz rund um die Rue des Huttes und Rue des Garennes im Industriegebiet Zone des Dunes, wo hauptsächlich Geflüchtete aus dem Sudan, Eritrea, Afghanistan und Iran leben, existieren kleinere Jungles in der Nähe des Stade de l’Épopée, im Gewerbegebiet Marcel-Doret sowie in der Nähe des Krankenhauses.