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Calais Channel crossings & UK

„The British police didn’t help us“ (2)

Abb. 1: Flugstrecke des Hubschraubers G-MCGU der britischen Küstenwache am frühen Morgen 24. November 2021 (orange). Das Zentrum des Suchgebiets lag nördlich der Seegrenze (violett) im britischen Hoheitsgebiet.

Weitere Indizien unterstreichen die Vermutung, dass sich die Havarie, bei der am 24. November 2021 mindestens 27 Menschen starben, im britischen Hoheitsbereich ereignet hat. Die beiden Überlebenden sowie Angehörige von Opfern hatten dies übereinstimmend gegenüber der kurdischen Mediengruppe Rustaw berichtet. Außerdem hatten die Überlebenden geschildert, dass die telefonisch alarmierten Küstenwachen beider Staaten wechselseitig behauptet hätten, das Boot befände sich im jeweils anderen Hoheitsgebiet – mit dem Ergebnis, dass keine Rettung erfolgte, bis ein Fischer die im Wasser treibenden Leichen entdeckte (siehe hier). Darüber hinaus wurde nun die Aussage eines Geflüchteten publik, der wenige Tage vor der Havarie eine ähnlich kafkaeske Situation erlebt hatte. Das offensichtliche Versagen der britischen Küstenwache könnte also kein Einzelfall gewesen sein.

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Calais Solidarität

Blockierte Räumung

Blockade einer Räumung in Calais, 4. November 2021. (Foto: Louis Witter)

Erstmals ist am heutigen 4. November in Calais die routinemäßige Räumungen eines Camps von lokalen Aktivist_innen und Exilierten durch eine gewaltfreie Blockade verhindert worden. Die Aktion am 25. Tag des Hungerstreiks reiht in einen Zyklus von Protesten ein, der binnen weniger Wochen eine in den vergangenen Jahren nicht gekannte Dynamik entfaltet hat.

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Calais Solidarität

Der Hungerstreik und der Sturm

Zwei der Hungerstreikenden in der Kirche Saint-Pierre am siebten Tag ihrer Aktion. (Foto: Julia Druelle)

Der am 11. Oktober begonnene unbefristete Hungerstreik in der Kirche Saint-Pierre in Calais dauert nun seit elf Tagen an. Nach wie vor wurde keine der Forderungen erfüllt, an die Anaïs Vogel, Ludovic Holbein und Philippe Demeestère die Beendigung ihres Protests binden: erstens Ende der routinemäßigen Räumungen zumindest während des Winters, zweitens ein Ende der massenhaften Beschlagnahmungen und drittens ein Dialog der Behörden mit den unabhänbgigen Organisationen der Geflüchtetenhilfe (siehe hier). Trotz erster Zugeständnisse der Behörden bleiben die Forderungen unerfüllt und insbesondere die Räumungspolitik gegenüber den Camps dauert an. Exemplarisch zeigt dies der 21. Oktober, als ein schwerer Sturm in Nordfrankreich schwere Schäden anrichtete.

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Channel crossings & UK

Bald 20.000 Bootspassagen

Inkriminierte Aufklärung: Sicherheits- und Notfallhinweise für Geflüchete in Calais. (Foto: Utopia 56 / Twitter)

Während im Oktober des vergangenen Jahres die Zahl der Bootspassagen stark zurückging, hält die Frequentierung der Kanalroute in diesem Oktober an. Nach Angaben der BBC passierten am Wochenende und Wochenbeginn vom 16. bis 19. Oktober 806 Menschen den Ärmelkanal und gelangten in britisches Hoheitsgebiet. Die Zahl der Channel crossers stieg damit auf über 19.400 Personen seit Jahresbeginn an und dürfte in Kürze die symbolpolitisch wichtige Grenze von 20.000 überschreiten. Am gleichen Wochenende wurden im französischen Teil des Kanals 482 Menschen aus Seenot gerettet.

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Dunkerque & Grande-Synthe

Räumung von fast 800 Exilierten

Räumung in Grande-Synthe, 23. September 2021. (Foto: Utopia 56)

[Updated, 26.9.2021] In Grande-Synthe bei Dunkerque wurde am gestrigen 23. September 2021 ein Camp geräumt, in dem fast 800 Personen lebten. Während die Zelte und Hütten vollständig zerstört wurden, stellten die Behörden nur für einen kleinen Teil der Betroffenen Unterkünfte an anderen Orten bereit, sodass die überwiegende Zahl der Geräumten nun ohne den prekären Schutz der Behelfssiedlung dasteht.

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Calais Solidarität

Aleksandra und die anderen Opfer der Grenze

Am 5. September 2021 war es ein Jahr her, dass Aleksandra Hazhar wenige Tage nach der Geburt starb. Ihr Tod steht sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Verhalten einer Gendarmeriepatrouille, die der Mutter jede medizinische Hilfe verweigerte, obwohl die Geburt eingesetzt hatte (siehe hier und hier). Während die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu dem Fall noch andauern, ist der Jahrestag des Todes Anlass mehrerer öffentlicher Interventionen, die die tödlichen Konsequenzen der Grenzpolitik in den Blick rücken sollen.

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Channel crossings & UK Dunkerque & Grande-Synthe

Nach der Havarie

Von der Rettung zurück in die Prekarität: Überlebende der Havarie nach der Ankunft am Hafen von Dunkerque, 12. August 2011. (Foto: Utopia 56 / Twitter)

Nach der Havarie, durch die am 12. August ein Bootspassagier starb (siehe hier), wurden nun einige Details über das Unglück und über den Umgang mit den Geretteten bekannt: Bei dem Opfer handelte es sich um einen 27jährigen Mann aus Eritrea. Bestätigt haben sich die am Tag des Unglücks veröffentlichten Meldungen über den Ablauf der Rettungsaktion. Allerdings veröffentlichte die Organisation Utopia 56 Schilderungen über den Umgang mit den Geretteten, die der behördlichen Darstellung widersprechen, man habe sich um die Menschen gekümmert.

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Calais Dunkerque & Grande-Synthe

Jugendliche in Extremsituation

Wie die in Calais tätige Organisation Utopia 56 am 30. Juli 2021 in einem Tweet mitteilte, hat es einen Angriff auf einen jugendlichen Exilierten in Calais gegeben: „Gestern hielt in Calais ein Auto am Rande eines Camps von exilerten Personen und schoss auf einen 15-jährigen Jungen. Er wurde in den Rücken geschossen. Er ist geschockt, aber nicht in Gefahr.“ Über Ablauf, Hintergründe und Motiv der Tat ist bislang nichts Näheres bekannt.

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Calais

Im Raum der Extralegalität

Zu den von Utopia 56 öffentlich gemachten Misshandlungen

Auf dem Rücksitz des Polizeiwagens zusammenschlagen – Brandwunden mit dem Feuerzeug zufügen – einen Mann durch Urinieren wecken – einem anderen die Schuhe wegnehmen und ihn barfuß an der Autobahnauffahrt zurücklassen – Familienzelte mit CS-Gas einsprühen. – Der Migrationsforscher Michel Agier beschrieb den Jungle von Calais in seinem gleichnamigen Standardwerk [1] als einen Lebensort innerhalb der dort zur Falle gewordenen Grenze, der zugleich durch drei Dimensionen der Ausgrenzung konstituiert ist: die Exklusion der Menschen, die (faktische) Extraterritorialität des Raumes und Extralegalität des Status. Der Jungle als Hüttenstadt vieler tausend Bewohner_innen, der im Mittelpunkt der Analyse Agiers und seines Teams stand, besteht seit knapp fünf Jahren nicht mehr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mechanismen des Verdrängens der Exilierten in gleichsam rechtsfreie Zonen damit beendet wären. Die oben umrissenen Gewaltakte, die laut einer Mitteilung von Utopia 56 von Angehörigen der Sicherheitskräfte an Exilierten in Calais verübt wurden (siehe hier), sind nur denkbar in einem solchen Raum suspendierter (menschen)rechtlicher Normen, in dem die Handlungsmacht der Polizei gleichsam entgrenzt ist – sei es, dass ihnen ein solcher extralegaler Handlungsraum gewährt wird, sei es, dass sie ihn sich selbst aneignen. Inzwischen ist mehr über die Fälle, ihren Kontext und ihre möglichen Konsequenzen bekannt geworden.

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Calais

Utopia 56 über Polizeigewalt und Misshandlungen

Systemische Gewalt in Calais: Routinemäßige Räumung am Weltflüchtlingstag, 20. Juni 2021. (Foto: Human Rights Observers)

Am 21. Juni 2021 veröffentlichte die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56 eine Liste aktueller Misshandlungsfälle, von denen sie bei ihrer Arbeit mit Geflüchteten in Calais erfahren habe. Genannt werden sowohl Fälle erniedrigender Behandlung, als auch Akte unmittelbarer physischer Gewalt. Über vergleichbare Fälle war seit den 2000er-Jahren mehrfach und von verschiedenen Akteur_innen berichtet worden; dennoch stechen die Schilderungen aus dem hervor, was in den vergangenen Jahren in Calais ‚normal‘ war. Der auf Facebook eingestellte und im Folgenden in deutscher Übersetzung dokumentierte Text ist als politische Anklage gegen den Präfekten des Pas-de-Calais angelegt. Zu Recht weist Utopia auf den systemischen Charakter der Gewalt in Calais hin, der nicht zwingend solcher unmittelbarer Brutalität bedarf. Dennoch bleibt zu hoffen, dass zumindest einige der Gewaltakte gerichtlich aufgearbeitet werden.