Eines der wenigen konkreten Ergebnisse des europäischen Ministertreffens nach der verheerenden Havarie vom 24. November war die Entsendung eines militärischen Aufklärungsflugzeugs der europäische Grenzschutzagentur Frontex nach Lille mit dem Auftrag, die Küste vor der Calaiser Region zu überwachen. Ob die ersten Einsätze Symbolpolitik waren, aufgrund der kurzfristigen Verlegung ohne ausreichende Kenntnis des modus operandi der Bootspassagen erfolgten oder der Vorbereitung späterer Einsätze dienten, bleibt spekulativ.
Schlagwort: Grande-Synthe
Damien Carême war fast 20 Jahre lang der Bürgermeister von Grande-Synthe. In der Geografie der Transitmigration am Ärmelkanal ist diese Kleinstadt nahe des Hafens von Dunkerque seit Langem eine Konstante. Der frühere Sozialist wurde überregional bekannt, als er dort im Jahr 2016 ein humanitäres Camp errichten ließ – in Gegenmodell zum rein repressiven Konzept im benachbarten Calais.
Seit 2019 sitzt Carême als Abgeordneter der Grünen / EFA im EU- Parlament. Im Rahmen einer aktuellen Recherche in Calais und Dunkerque tauchte die Frage auf, wie Carême auf die derzeitige Situation am Kanal blickt. Anstelle des kurzen Statements, um das wir ihn baten, schickte er eine detaillierte Analyse der Lage, die wir im Folgenden übersetzt veröffentlichen.
Wenn man nach langer, zu langer Pause wieder an den Ärmelkanal kommt, ist das eine seltsame Ambivalenz. Einerseits hat sich die Geografie verändert, man bewegt sich nicht mehr selbstverständlich, sondern muss sich die Situation erst wieder neu erschließen. Gerade dieser Abstand aber, aus dem man sich dann erneut heranzoomt an den Alltag der repressiven Elendsverwaltung, aus Räumungen und Schikanen, bietet die Möglichkeit einer Aktualisierung der eigenen Analyse. Im Folgenden einige Punkte, die sich aus der zurückliegenden Woche in Calais und Grande-Synthe ergeben.
In der Politik gegenüber den Exilierten in Calais und der Region ist nach dem Ende des Hungerstreiks vor drei Wochen und des Schiffsunglücks mit mindestens 27 Toten vor gut zehn Tagen keinerlei Kurswechsel erkennbar. Der Einsatz des von Frontex bereitgestellten Aufklärungsflugzeugs scheint – bei aller Unsicherheit, die langfristige Strategie aus bisher zwei Einsätzen abzuleiten – vor allem der Symbolpolitik zu dienen.
Nach dem verheerenden Bootsunglück auf dem Ärmelkanal vor einer Woche dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen die politische Aufarbeitung in Frankreich und Großbritannien. Die von EU und Großbritannien als Reaktion jeweils auf den Weg gebrachten Maßnahmen bewegen sich im erwartbaren Rahmen und dürften kaum dazu beitragen, Menschenleben zu retten. Der politische Druck aus der Zivilgesellschaft nimmt jedoch zu und zeigt erste Auswirkungen.
Der Tod vor Calais (2)
Während der Tod von 27 Menschen im Ärmelkanal internationale Aufmerksamkeit erfährt, werden allmählich genauere Informationen über die Opfer bekannt. Demnach handelte es sich vor allem um irakische bzw. iranische Kurd_innen. Nach Angaben der französischen Behörden starben 17 Männer, sieben Frauen und drei Minderjährige; eine der Frauen war offenbar schwanger. In Sangatte bei Calais wurde außerdem die Leiche einer weiteren Person angespült, möglicherweise ebenfalls ein Geflüchteter, der bei einem früheren Passageversuch das Leben verloren haben könnte. Aber auch dies ist wie vieles andere momentan noch unklar. Hier eine weitere Überblick über die Situation einen Tag nach der Havarie.
In Grande-Synthe bei Dunkerque fand am gestrigen 16. November eine der größten Räumungen der vergangenen Jahre statt. Sie betraf ein Camp, in dem rund 1.000 bis 1.500 Menschen, meist irakische Kurd_innen, lebten. Eine zweite Räumung betraf am gleichen Tag ein Gelände in Marck bei Calais, auf das sich nach vorausgegangenen Räumungen hunderte Exilierte zurückgezogen hatten. Auf ihre jeweilige Weise wirken beide Räumungen wie politische Statements, denn sie fanden an exponierten Orten statt und geschahen im Kontext aufgeheizter Diskurse: Die Räumung der mehr als tausend Menschen in Grande-Synthe kann als ein Signal Frankreichs an Großbritannien verstanden werden, dass man noch entschlossener gegen potenzielle Bootsmigrant_innen durchgreife, während die Räumung bei Calais genau dort ansetzte, wo sich Aktivist_innen anderthalb Wochen zuvor einer solchen Aktion zweimal entgegengestellt hatten (siehe hier). Beide Räumugen widersprachen zudem diametral der Forderung der Hungerstreikenden, die seit dem 11. Oktober eine Aussetzung solcher Operationen während der Wintermonate gefordert hatten und ihre Aktion am heutigen 17. November abbrachen.
Räumungen trotz Winterfriede
„Erster November, Beginn des Winterfriedens. Heute Morgen fand eine neue Räumung statt. Entgegen den von der Regierung verbreiteten Behauptungen wurde erneut keine Lösung für die Unterbringung von Exilanten gefunden.“ Mit diesen Worten kommentierten die Hungerstreikenden in der Calaiser Kirche Saint-Pierre die Fortsetzung der Räumungen über den 1. November hinaus. Ab diesem Tag gilt in Frankreich ein Winterpause, die verhindern soll, dass Menschen während der kalten Jahreszeit durch Zwangsräumungen obdachlos werden. Eine Aussetzung der Räumungen zumindest während der Phase ist eine zentrale Forderung des Hungerstreiks.
Der Hungerstreik und der Sturm
Der am 11. Oktober begonnene unbefristete Hungerstreik in der Kirche Saint-Pierre in Calais dauert nun seit elf Tagen an. Nach wie vor wurde keine der Forderungen erfüllt, an die Anaïs Vogel, Ludovic Holbein und Philippe Demeestère die Beendigung ihres Protests binden: erstens Ende der routinemäßigen Räumungen zumindest während des Winters, zweitens ein Ende der massenhaften Beschlagnahmungen und drittens ein Dialog der Behörden mit den unabhänbgigen Organisationen der Geflüchtetenhilfe (siehe hier). Trotz erster Zugeständnisse der Behörden bleiben die Forderungen unerfüllt und insbesondere die Räumungspolitik gegenüber den Camps dauert an. Exemplarisch zeigt dies der 21. Oktober, als ein schwerer Sturm in Nordfrankreich schwere Schäden anrichtete.
Amal in Calais
Fand die Situation der Geflüchteten in Calais nach der Räumung des zeitweise von über 10.000 Exilierten bewohnten Jungle im Oktober 2016 kaum öffentliches Interesse, so hat sich die Situation fünf Jahre später verändert. Damals wie heute ist der Protest gegen die Situation der Exilierten von künstlerischen und politischen Interventionen begleitet. Eine solche ist die Theateraktion The Walk, bei der „Little Amal“ – ein geflüchtetes Mädchen, das durch eine 3,5 Meter Puppe repräsentiert wird – nach Dunkerque und Calais kommen wird.