Zu unseren Beiträgen über die Auseinandersetzungen in den frühen Morgenstunden des 2. Juni 2021 (siehe hier und hier) ist ein Nachtrag erforderlich. Denn inzwischen wurde deutlich, dass zwei Exilierte in diesem Zusammenhang gegen 4 Uhr morgens durch Gummigeschosse der CRS am Kopf getroffen wurden und dadurch jeweils ein Auge verloren. Einer der Betroffenen war minderjährig. Dies bestätigten die Human Rights Observers in einem aktuellen Hintergrundgespräch mit unserem Blog in Calais.
Schlagwort: Polizeigewalt
Mit einer Petition an die Préfecture du Nord versucht die Rechtshilfe La Cabane Juridique momentan die Abschiebung eines eritreischen Exilierten in die Niederlande zu verhindern. Betroffen von der drohenden Maßnahme ist der Mann, der am 11. November 2020 in Calais durch einen Polizeieinsatz schwer verletzt worden war: Er war durch ein Gummigeschoss, dass ein CRS-Beamter aus weniger als zehn Metern Entfernung auf ihn abgeschossen hatte, am Kopf getroffen worden. Über den Fall hatten zahlreiche französische Medien, darunter die Libération, berichtet (siehe hier und hier).
Im Raum der Extralegalität
Zu den von Utopia 56 öffentlich gemachten Misshandlungen
Auf dem Rücksitz des Polizeiwagens zusammenschlagen – Brandwunden mit dem Feuerzeug zufügen – einen Mann durch Urinieren wecken – einem anderen die Schuhe wegnehmen und ihn barfuß an der Autobahnauffahrt zurücklassen – Familienzelte mit CS-Gas einsprühen. – Der Migrationsforscher Michel Agier beschrieb den Jungle von Calais in seinem gleichnamigen Standardwerk [1] als einen Lebensort innerhalb der dort zur Falle gewordenen Grenze, der zugleich durch drei Dimensionen der Ausgrenzung konstituiert ist: die Exklusion der Menschen, die (faktische) Extraterritorialität des Raumes und Extralegalität des Status. Der Jungle als Hüttenstadt vieler tausend Bewohner_innen, der im Mittelpunkt der Analyse Agiers und seines Teams stand, besteht seit knapp fünf Jahren nicht mehr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Mechanismen des Verdrängens der Exilierten in gleichsam rechtsfreie Zonen damit beendet wären. Die oben umrissenen Gewaltakte, die laut einer Mitteilung von Utopia 56 von Angehörigen der Sicherheitskräfte an Exilierten in Calais verübt wurden (siehe hier), sind nur denkbar in einem solchen Raum suspendierter (menschen)rechtlicher Normen, in dem die Handlungsmacht der Polizei gleichsam entgrenzt ist – sei es, dass ihnen ein solcher extralegaler Handlungsraum gewährt wird, sei es, dass sie ihn sich selbst aneignen. Inzwischen ist mehr über die Fälle, ihren Kontext und ihre möglichen Konsequenzen bekannt geworden.
Am 21. Juni 2021 veröffentlichte die zivilgesellschaftliche Organisation Utopia 56 eine Liste aktueller Misshandlungsfälle, von denen sie bei ihrer Arbeit mit Geflüchteten in Calais erfahren habe. Genannt werden sowohl Fälle erniedrigender Behandlung, als auch Akte unmittelbarer physischer Gewalt. Über vergleichbare Fälle war seit den 2000er-Jahren mehrfach und von verschiedenen Akteur_innen berichtet worden; dennoch stechen die Schilderungen aus dem hervor, was in den vergangenen Jahren in Calais ‚normal‘ war. Der auf Facebook eingestellte und im Folgenden in deutscher Übersetzung dokumentierte Text ist als politische Anklage gegen den Präfekten des Pas-de-Calais angelegt. Zu Recht weist Utopia auf den systemischen Charakter der Gewalt in Calais hin, der nicht zwingend solcher unmittelbarer Brutalität bedarf. Dennoch bleibt zu hoffen, dass zumindest einige der Gewaltakte gerichtlich aufgearbeitet werden.
Serie massiver Räumungen: Calais
Die Räumung des Unicorn und andere Narrative der Gewalt
Parallel zur Räumungsserie in Grande-Synthe (siehe hier) wurde in Calais das Camp Unicorn im Stadtteil Virval geräumt, das sich zuletzt zum Lebensort für rund 600 Menschen entwickelt hatte. Die Räumung fand in einer Phase statt, in der eine in ihrem Ausmaß bislang beispiellose Beschlagnahme von Zelten die Lebensbedingungen weiter verschlechtert hat. Zeitlich überschnitt sie sich außerdem mit zwei Ereignissen, bei denen es zu Gewalt zwischen Exilierten sowie mit der Polizei kam. In der öffentlichen Wahrnehmung verschmolzen diese Situationen zu einer Gewalterzählung, die die Räumung – fälschlicherweise – als Reaktion auf Gewalt erscheinen ließ. Anders als die meisten anderen Räumungen stieß sie dadurch auch auf überregionale mediale und politische Aufmerksamkeit. Es gilt also, den Ereigniskomplex zu entwirren.
Sowohl in Grande-Synthe als auch in Calais kam es im Mai und Anfang Juni zu massiven Räumungen. In ihrem Umfang, aber auch hinsichtlich der eingesetzten Gewaltmittel, gingen sie über die routinemäßigen Polizeioperationen hinaus. In diesem Beitrag geben wir anhand von Videomaterial der Human Rights Observers (HRO) zunächst einen Überblick über die vier Räumungen in Grande-Synthe zwischen dem 19. Mai bis 3. Juni 2021. Die Entwicklung in Calais werden wir im folgenden Beitrag behandeln.
Im Februar dokumentierten wir hier den offenen Brief einer Frau über den Verlust ihres neu geborenen Kindes Aleksandra. Sie klagt darin das Verhalten der französischen Polizisten an, die nach einer misslungenen Bootspassage keinerlei Hilfe leisteten, als die Geburt einsetzte. Später, bei der Geburt, kam es zu Komplikationen und Aleksandra starb nach wenigen Tagen. Die Familie hat inzwischen Anzeige gegen die beteiligten Beamten erstattet. In einer gemeinsamen Erklärung, die wir nachstehend in deutscher Übersetzung veröffentlichen, solidarisieren sich nun zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen mit der Familie. Die Erklärung ist auch in Französisch, Englisch und Sorani verfügbar.
„We thank your government for our full pockets“ – Calais smugglers speak, so betitelt der Guardian einen lesenswerten Artikel vom 10. Mai 2021. Die Autorin Mathilda Mallinson lässt hier Geflüchtete, Schmuggler und Unterstützer_innen zu Wort kommen. Sie alle berichten, dass aufgrund der zunehmenden Sekuritisierung der englischen Grenze die mafiösen Strukturen immer mächtiger werden. Migrant_innen berichten von einem Geflecht aus Gewalt und Angst sowohl durch die hier schon hinlänglich dokumentierte Polizeigewalt als auch von Seiten der immer stärker werdenden Mafia.
Alles rechtens, nichts mit rechten Dingen…
Räumungen und Enteignungen verschärft
Regelmäßige Räumungen der Siedlungsplätze der Exilierten in Calais sind integraler Bestandteil der staatlichen Abschreckungspolitik. Sie lassen sich zum einen der Strategie zuordnen, die Verfestigung von Siedlungsplätzen – sogenannte points de fixation – zu unterbinden. Zum anderen stellen sie – wie hier bereits dargestellt – Enteignungen dar.